Das neue Coronavirus ist offenbar milder als der SARS-Erreger – und dafür möglicherweise besser übertragbar.
Wie zu vermuten war, entwickelt sich rund um das neue Coronavirus 2019-nCoV eine gewaltige Dynamik auf nahezu allen Ebenen: infektionsepidemiologisch, medial, wissenschaftlich, politisch, wirtschaftlich – und persönlich in zahlreichen Gesprächen mit Patienten, Freunden und Familie. Der mediale Hype wird wahrscheinlich bald wieder abflauen, die ärztliche Aufmerksamkeit aber weiterhin gefordert sein.
Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Blog-Beitrags (05.02.2020) waren laut RKI über 24.500 Fälle gemeldet, darunter 493 Todesfälle, die sich alle in China ereigneten, bis auf je einen Todesfall auf den Philippinen und in Hongkong. In Deutschland wurden bisher 12 Fälle gemeldet. Als Risikogebiet definiert das RKI bisher nur die chinesische Provinz Hubei (inkl. Stadt Wuhan) an. Dort gibt es bis jetzt fast 17.000 Fälle, darunter 479 Todesfälle.
Per Eilverordnung wurde zum 1. Februar eine neue Meldepflicht eingeführt, die sich jetzt auch auf begründete Verdachtsfälle erstreckt, also auf solche gemäß der Falldefinition des RKI:
Dem RKI zufolge genügt dabei als klinisches Bild ein akutes respiratorisches Syndrom mit dem Verdacht, dass die unteren Atemwege betroffen sind. Fieber oder Husten sind nicht obligat. Da die Falldefinition vom RKI an die dynamische Entwicklung angepasst werden kann, wird dringend empfohlen, sich auf einem aktuellen Informationsstand zu halten.
Für die definierten Risikogruppen kann ein PCR-basiertes Nachweisverfahren veranlasst werden. Für die labormedizinische Leistung hat der Bewertungsausschuss zum 1. Februar die extrabudgetär finanzierte GOP 32816 (59,00 Euro) in den EBM neu aufgenommen. Der Veranlasser kann für die Diagnostik die Kennnummer 32006 angeben. Alle 2019-nCoV-Verdachtsfälle müssen mit der EBM-Ziffer 88240 gekennzeichnet werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben darüber informiert.
Die Eilverordnung gilt ein Jahr, also bis zum 1. Februar 2021, sofern nicht in der Zwischenzeit mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes beschlossen wird.
Haben Sie schon etwas hinsichtlich möglicher Fälle in Ihrer Praxis unternommen? Auf aerztezeitung.de1 haben wir folgendes Umfrageergebnis (allerdings ohne Angabe der Teilnehmerzahl) gefunden:
Etwas unklar ist dabei, ob die 25% eine sofortige Klinikeinweisung vornehmen würden oder schon vorgenommen haben (siehe Fragestellung). Wenn jedenfalls ein Patient anruft und einen Infektionsverdacht hegt, sollte zunächst mittels telefonischer Anamnese die Falldefinition geprüft werden. Ist sie erfüllt oder kann das Risiko nicht restlos ausgeschlossen werden – weil z. B. der Patient zwar im Risikogebiet war, aber nur Symptome der oberen Atemwege aufweist – steht die Rücksprache mit dem Gesundheitsamt an. Dabei geht es vor allem um die häusliche Isolierung und Abstrichnahme bzw. um den Infektionstransport in die Klinik. Erscheint ein Patient mit Infektionsverdacht ohne vorherige Anmeldung in der Praxis oder Klinik, muss er separiert werden. Anschließend geht – in Schutzkleidung – mit der Anamnese weiter, wie in diesem PDF-Schema dargestellt.
Die DEGAM empfiehlt in ihrem aktuellen Leitfaden keine routinemäßige 2019-nCoV-Diagnostik in der hausärztlichen Praxis, dafür aber einen Influenza-Schnelltest.
Für den Coronavirus-Nachweis soll das Probenmaterial parallel aus den oberen und tiefen Atemwegen gewonnen werden. Die Probenentnahme nur aus Oro- und Nasopharynx reicht zum Ausschluss einer Infektion nicht aus. Ein negatives PCR-Ergebnis schließt die Möglichkeit einer Infektion mit 2019-nCoV auch nicht vollständig aus. Verschiedene Faktoren wie schlechte Probenqualität, unsachgemäßer Transport, ungünstiger Zeitpunkt der Probenentnahme oder andere Gründe (z. B. Virusmutation) können zu falsch-negativen Ergebnissen führen.
Der Schnelltest für das neue 2019-nCoV (zumindest einer bzw. der erste; es gibt jetzt wohl mehrere) wurde übrigens an der Berliner Charité entwickelt. Prof. Christian Drosten, der Leiter des Instituts für Virologie, nutzte dafür seine früheren Erfahrungen als Mitentdecker des SARS-Virus. Im Jahr 2003 gelang ihm zusammen mit Stephan Günther (heute Virologie-Chef am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg) die Entwicklung eines diagnostischen Tests auf SARS, "wenige Tage nach der Identifizierung noch vor dem Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta", wie es auf Wikipedia heißt. Bemerkenswert: Der deutsche Virologe stellte seine Erkenntnisse zu SARS der Wissenschaftsgemeinde über das Internet sofort zur Verfügung – noch bevor sein Paper im Mai 2003 im New England Journal of Medicine erschien. Dieses vorbildliche (und leider keineswegs selbstverständliche) Verhalten wurde u. a. in einem Beitrag in Nature2 gewürdigt.
Drosten kennt sich also wie kaum jemand sonst mit Coronaviren aus und ist deshalb in den Medien gerade ein besonders gefragter Mann. In einem Interview auf zeit.de antwortet er auf die Frage, ob eine Isolation trotz der möglicherweise prä- und postsymptomatisch andauernden Ansteckungsgefahr sinnvoll sei: "Ja, dieses Virus ist überraschend anders als der damalige Sars-Erreger. Ich sehe das mit großer Sorge, aber auch Optimismus: Das Virus wird wahrscheinlich deshalb besser übertragen, weil es die Menschen weniger krank macht."
Die Frage, ob schon während der Inkubationszeit eine Ansteckungsgefahr besteht, ist natürlich von hoher Relevanz. In einem Brief an das New England Journal of Medicine hatten Drosten und Kollegen vor wenigen Tagen über den ersten Fall in Deutschland berichtet. Im Rahmen eines Workshops hatte sich ein Deutscher bei einer noch symptomfreien und erst auf dem Rückflug erkrankten Chinesin angesteckt. Vermeintlich. Wie sich jetzt herausstellte, hatten die deutschen Wissenschaftler die Chinesin nicht selbst befragt, sondern sich auf die Mitteilungen anderer Patienten verlassen. Das RKI und das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit hatten die Chinesin dagegen angerufen und erfahren, dass sie sich schon bei ihrem Aufenthalt in Deutschland müde fühlte, Muskelschmerzen hatte und Paracetamol einnahm.
Wie auf sciencemag.org nachzulesen ist, hat die unter Zeitdruck erfolgte Falschmitteilung für etwas Unmut im Wissenschaftsbetrieb gesorgt. Andererseits wäre es eine gute Nachricht, wenn 2019-nCoV nicht schon während der Inkubationszeit übertragen wird. Ein renommierter Experte in China geht allerdings davon aus. Wenn es dazu Neues gibt, werden wir davon berichten. Ansonsten werden wir uns in diesem Blog jetzt mal wieder anderen Themen zuwenden. Es ist ja auch unabhängig vom Coronavirus viel los …
Referenzen:
1. Blaschke S. Mehr Tempo bei Identifizierung von nCoV-2019-Patienten. Ärzte Zeitung online vom 03.02.2020 (aerztezeitung.de; Zugriff am 05.02.2020)
2. Abbott A. First past the post. Nature 2003;423(6936):114
Abkürzungen:
RKI = Robert Koch-Institut
SARS = Severe Acute Respiratory Syndrome
WHO = Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization)