Ärztliche Empathie verringert bei Patienten mit Typ-2-Diabetes das Risiko kardiovaskulärer und letaler Ereignisse – evidenzbasiert.
Hand auf’s Herz: Was kommt Ihnen beim Stichwort "EBM" als Erstes in den Sinn? Die Evidenz oder das Geld?
Beide Bedeutungen könnte man als die zwei Seiten einer Medaille bzw. einer Münze betrachten. Geld sollte möglichst für therapeutische Maßnahmen ausgegeben werden, deren Wirksamkeit erwiesen ist. Umgekehrt nützt die beste wissenschaftliche Erkenntnis nichts, wenn für deren Umsetzung kein Geld fließt.
In unserem nicht so ganz gesunden Gesundheitswesen sind – das wissen wir alle – einige Münzen mit Fehlprägung im Umlauf. Fehlprägung kann Vieles bedeuten: Das Geld stimmt, aber die Evidenz fehlt. Die Evidenz ist da, aber der Geldwert ist nicht angemessen – zu hoch oder zu niedrig. An der Evidenz ist auch nicht immer Gold, was glänzt. In manchen Fällen mag es zudem schwierig bis unmöglich sein, die gewünschte Evidenz überhaupt zu generieren – sei es aus wissenschaftssystematischen Gründen oder weil niemand ein Interesse an der Finanzierung hat.
Wie steht es da mit der sprechenden Medizin? Der Geldwert stimmt schon mal nicht, so viel ist klar. Ob sich daran in naher Zukunft etwas paradigmatisch ändert, darf bezweifelt werden, Ärztetagsbeschluss und Koalitionsvertrag hin oder her. In Form der Homöopathie wird die ärztliche Zuwendung dagegen von vielen Krankenkassen sogar freiwillig bezahlt, der Streit über diese Fehlprägung ist in vollem Gange. Im Rahmen der wissenschaftlich basierten Medizin sieht das leider ganz anders aus. Dabei kommt der sprechenden Medizin immer und überall, besonders aber in der Diabetologie eine herausragende Bedeutung zu, angesichts der lange Zeit beschwerdefreien Krankheitsverläufe und der ungeliebten Lebensstilmodifikationen als eigentlicher Therapiebasis.
Und die Evidenz für das "Medikament Arzt" und seine wichtige Wirkstoffkomponente Empathie? Die wächst! Zwei aktuelle Arbeiten belegen den therapeutischen Effekt der intensiven ärztlichen Zuwendung bzw. Lebensstilberatung.
In einer retrospektiven Studie1 wurde bei über 19.000 Patienten mit Diabetes (überwiegend Typ 2) im östlichen Massachusetts (USA) die Häufigkeit der Lebensstilberatung während hyperglykämischer Phasen in einem zweijährigen Therapiezeitraum ermittelt (Median: 0,46 pro Monat). Die Auswertung der entsprechenden Dokumentation in elektronischen Patientenakten erfolgte mittels maschineller Sprachverarbeitung.
Die kalkulierte Frequenz wurde mit der Inzidenz von kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen in einem anschließenden Beobachtungszeitraum von durchschnittlich 5,4 Jahren ins Verhältnis gesetzt. In der multivariaten Analyse fand sich ein inverser Zusammenhang: Mehr ärztliche Beratung (mindestens einmal monatlich) bedeutete weniger kardiovaskuläre bzw. fatale Ereignisse.
Die große Mehrheit der Patienten (knapp über 16.000) wurde seltener als einmal im Monat beraten, wobei im zweijährigen Therapiezeitraum eine Absenkung des medianen HbA1c-Ausgangswerts von 7,8% um 0,7% gelang. In der Patientengruppe mit mindestens monatlicher Beratungsfrequenz betrug die HbA1c-Absenkung dagegen 1,8%.
Bei der zweiten Arbeit handelt es sich um eine prospektive Kohortenstudie2 aus dem Vereinigten Königreich im Rahmen des ADDITION-Cambridge Trial (Anglo-Danish-Dutch Study of Intensive Treatment in People With Screen Detected Diabetes in Primary Care). Die Studienpopulation mit per Screening entdecktem Typ-2-Diabetes entstammt 49 Hausarztpraxen in East Anglia und wurde über durchschnittlich 10 Jahre beobachtet. Ein Jahr nach der Diagnosestellung beurteilten die Patienten die Empathie ihres betreuenden Arztes.
Dafür beantworteten sie die zehn Fragen der validierten CARE-Messung (Consultation And Relational Empathy)3. Darin wird abgefragt: "Wie gut gelang es Ihrem Arzt, …
Für jede Frage können 1 bis 5 Punkte vergeben werden, die Gesamtwertung reicht also von 10 bis maximal 50 Punkte.3 Für die Studie konnten die Bewertungen von 621 Patienten verwendet werden. Die CARE-Scores wurden in Terzilen eingeteilt (≤ 37, 38–46, ≥ 47 Punkte). Als Studienendpunkte wurden ein kombinierter Endpunkt (Myokardinfarkt, Revaskularisierung, nichttraumtische Amputation, Schlaganfall und tödliches kardiovaskuläres Ereignis) sowie die Gesamtmortalität definiert. Die Daten dafür wurden aus ambulanten und stationären Krankenakten sowie nationalen Registern gezogen.2
Das Ergebnis: Im Vergleich zum niedrigsten Terzil waren höhere CARE-Werte mit einem geringeren Risiko sowohl für den kombinierten Endpunkt (nicht signifikant) als auch für die Gesamtmortalität (signifikant) assoziiert.
"Ärzte müssen mehr mit dem Patienten sprechen", fordert Prof. Stephan Martin vom Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. Wir sind ihm dankbar dafür, dass er uns auf diese beiden Studien aufmerksam gemacht hat. Und wir stimmen seiner Analyse zu, dass wir die evidenzbasierte Medizin als Basis unseres ärztlichen Handelns benötigen, ohne dass die ärztliche Kunst dabei an die Seite gedrängt werden darf. Kunst kommt von Können und in den CARE-Fragen, die oben aufgelistet sind, wird ganz gut deutlich, um welches Können es sich dabei (auch) handelt.
Die ganze Kunst besteht darin, alles miteinander zu verbinden, was dem Patienten wirklich hilft: Empathie und Evidenz, Beratung und Behandlung, präferierte Lebensstilintervention und Medikation, sprechende Medizin und Technik, Präsenz und Telemedizin, Betreuung und Selbstmanagement. Dazu kommt die interdisziplinäre und interprofessionelle Kooperation. Das "Medikament Arzt" braucht ein Vergütungssystem, dass dieser komplexen und kunstvollen Wirkung gerecht wird und nicht dem Griff nach dem Rezeptblock.
Referenzen:
1. Dambha-Miller H et al. Association Between Primary Care Practitioner Empathy and Risk of Cardiovascular Events and All-Cause Mortality Among Patients With Type 2 Diabetes: A Population-Based Prospective Cohort Study. Ann Fam Med 2019;17(4):311-8
2. Zhang H et al. Lifestyle Counseling and Long-term Clinical Outcomes in Patients With Diabetes. Diabetes Care 2019;42(9):1833-6
3. Mercer SW et al. The consultation and relational empathy (CARE) measure: development and preliminary validation and reliability of an empathy-based consultation process measure. Fam Pract 2004;21(6):699-705