Gemeint ist ja an sich, dass eine Krankheit gar nicht erst auftritt. Vorsorge ist somit eine Handlungsstrategie, die dazu dient, einer Krankheit vorzubeugen. Auf das rechtzeitige Erkennen von Erkrankungen in Frühstadien folgt meist eine frühzeitige operative oder medikamentöse Therapie, wobei dies nicht bei allen Erkrankungen mit einem besseren Outcome in der Lebensqualität, Symptomkontrolle und der Lebensprognose assoziiert ist - dies sollten wir nicht ganz vergessen.
Darüber hinaus gibt es die Sekundär- und Tertiärprävention, die in unserem Gesundheitssystem bisher ebenfalls noch zu wenig strukturiert angewendet wird. In diesen Programmen wird versucht, dafür zu sorgen, dass eine Erkrankung nicht schlimmer wird, beziehungsweise nicht zurückkommt.
Sehr gute und wichtige Ziele, dennoch wissen wir, dass die Vorsorge in unserer Gesellschaft immer noch eine Nebenrolle spielt. Das Gesundheitssystem bewertet und vergütet weiterhin die Akuttherapie ökonomisch höher als eine Vorsorgestrategie, die in der Regel eher mit Gesprächen, mit Lebensstilfragen und weniger mit apparativer Medizin zu tun hat. Hier geht es um eine ganzheitliche Betrachtung, die natürlich nur interdisziplinär, interprofessionell und transsektoral umgesetzt werden kann.
Ein Beispiel: Ein wissenschaftliches und klinisches Schwerpunktthema an der Charité ist die Cancer Survivorship Clinic - also ein Zentrum zu den verschiedenen Aspekten von Langzeitüberlebenden nach der Diagnose Krebs. Wir schauen in dem Konzept auf die in der aktuellen Routine nur wenig beachteten Bedürfnisse von Frauen mit der Diagnose Gebärmutterkrebs, Gebärmutterhalskrebs oder Eierstockkrebs und schauen auch auf die mentale Gesundheit, das Knochensystem, den kardiovaskulären Status und auf die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. Dabei zeigt sich leider ein großes Defizit. Mindestens 30 bis 40 Prozent der Frauen hatten z.B. keine Hautkrebsvorsorge wahrgenommen, keine Darmkrebsvorsorge, auch keine Herz-Kreislauf-Vorsorge. Das zeigt überdeutlich, dass das Thema Vorsorge nicht präsent genug ist, obwohl wir eigentlich alle wissen, dass diese Frauen ein erhöhtes Risiko für Osteoporose, kardiovaskuläre Ereignisse und auch Zweitmalignome haben. Warum ist das so? Was muss geschehen, dass dies endlich besser wird?
Information und Aufklärung von Patientinnen und /Patienten, Angehörigen, aber auch des medizinischen Personals sind sicher wichtige Instrumente, die aber auch andere strukturelle Rahmenbedingungen benötigen.
Ein weiterer Grund könnte sein, dass sich Menschen nicht so gern mit Vorsorge beschäftigen. Da geht es ja um Ernährung, um Lebensstil, um Dinge wie Nikotin etc. Es ist vielen vielleicht zu kompliziert, zu unangenehm, zu anstrengend, auch diese zum Teil chronifizierten Themen anzusprechen und anzugehen. Auch in der medizinischen Aus- und Weiterbildung finden diese Themen immer noch zu wenig Beachtung. Aber das andere ist eben auch unser nicht funktionales Medizinsystem. Es ist immer noch sehr sektoral und häufig zu organspezifisch getrennt. Vorsorge, Prävention sind Querschnittsthemen und gehören in das Gesundheitskonzept eines jeden Krankheitsbildes.
Es ist unüblich, dass ein Mediziner sowohl über Darmkrebs- als auch über Brustkrebsvorsorge spricht. Der Gynäkologe spricht häufiger über Brustkrebs- oder Gebärmutterhalskrebsvorsorge und der Magen-Darm-Spezialist erinnert häufiger an Darmkrebsvorsorge. Aber der menschliche Körper, unsere Gesundheit ist ein doch ein großes Ganzes, ein zusammenhängendes System.
Ich wünsche mir daher eine übergreifende Vorsorge-Kampagne. Es muss über die Fachgrenzen und die Berufsgruppen hinweg zusammengearbeitet werden. Vom Orthopäden, der sich um die Knochendichte kümmert - Osteoporose z.B. ist bekanntermaßen ein Riesenzivilisationsproblem. Vom Hausarzt und Allgemeinmediziner über den Diabetologen bis zum Krebsmediziner könnten alle gemeinsam auf die Vorsorge hinweisen und informieren. Warum nicht Kampagnen starten, die Vorsorge für Zähne thematisieren, genauso wie Gebärmutterhalskrebs und Hautkrebs. Sind die Einflüsse der Ernährung nicht sehr ähnlich für das Herz-Kreislaufsystem und die onkologischen Grunderkrankungen? Und warum sprechen wir nicht zugleich auch das soziale Umfeld der Menschen an, das wir quasi als gemeinsames Vorsorge-Team motivieren könnten?
Das klingt derzeit vielleicht ambitioniert. Aber ich bin sicher: Vorsorge muss man konsequent und holistisch sehen. Wir können als Spezialisten nicht nur auf unser Organ oder eine spezielle Krankheit schauen und dort sauber getrennte Diagnosen stellen. Auch als Gynäkologe kann ich doch sagen: “Achten Sie bitte auf Ihre Zahnhygiene, achten Sie bitte auf Ihr Gewicht”. Beispiel: Das Endometriumkarzinom macht ein 10- bis 15-fach erhöhtes Risiko, an einem Herzinfarkt oder einer Lungenembolie zu sterben. Das heißt, ich kann mich nicht nur mit meinem Spezialgebiet, etwa dem Gebärmutterkrebs, auseinandersetzen. Ich muss gesundheitlich sinnvolle Angebote machen und dabei natürlich nichts aufzwingen.
Wir müssen uns immer klar machen, dass Medizinerinnen und Mediziner zu den wichtigsten Influencern gehören, wenn es um Impfungen oder um Vorsorge geht. Was eine Ärztin, ein Arzt sagt, hat ganz besonderes Gewicht. Diese Chance können wir nutzen. Und wir müssen zugleich im ökonomischen System vorbeugende Maßnahmen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit besser honorieren. Im “alten” China war es doch so: “Je weniger Krankheit, desto mehr Honorar hatte der Heiler. Bei uns ist es heute genau anders herum: Je mehr Krankheit, desto höher das Honorar. Da stimmt doch irgendetwas nicht, oder?
Alle medizinischen Berufsgruppen können dazu beitragen, dass mehr Menschen in die Vorsorgeprogramme kommen. Also warum nicht Vorsorgestrategien berufsgruppenübergreifend auflegen? Erste Beispiele berichten von vielversprechenden Ansätzen.
Vorsorge muss also eine gemeinsame Aktion über die Berufsgruppen hinweg sein, das kann nicht häufig genug betont werden. Noch ein einfaches Beispiel: Die Zahnprophylaxe macht nicht immer der Zahnarzt, das machen auch speziell geschulte Arzthelferinnen. Es muss derjenige belohnt werden, der Menschen in die Vorsorge bringt. Ein Vorsorgegespräch kann genauso eine Abrechnungsziffer haben wie andere wichtige Prozeduren. Es existieren schon Ziffern für Vorsorgeuntersuchungen, aber die sind zu begrenzt und limitiert. Das Arzt-Patienten-Gespräch ist auch hier der Schlüssel für das Vorsorgegespräch, um das jeweilige Risiko zu erkennen und maßgeschneiderte Vorsorgemaßnahmen einzuleiten. Und wir wissen, wie schlecht das Gespräch in unserem Gesundheitssystem weiterhin vergütet wird, das muss sich endlich ändern!
Wenn man die Prävention ernst nimmt, muss diese Leistung als Kampagne breit gefördert und gestärkt werden. Wir sind ja dabei, das Gesundheitssystem neu zu organisieren und es ist vollkommen klar, dass wir immer weiter in die Knappheiten und den Mangel kommen - eigentlich schon mittendrin sind. Wir werden unweigerlich mehr Patienten mit Diabetes, Hypertonus und Krebserkrankungen sehen - aufgrund des Lebensstils und der Alterung der Bevölkerung und dies nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern weltweit!
Wir wissen, dass wir zu wenig Bewegung haben und uns vielfach falsch ernähren. Also lasst uns eine neue Allianz und einen neuen Trialog bilden: Vorsorge-Nachsorge-Fürsorge!
Mehr von Prof. Sehouli im Blog Weissbunt.