Die meisten Modelle von Mortalität und Überleben gründen reduktionistisch auf Tumor-Charakteristika und Therapie-Exposition als prognostischen Indikatoren. Tumoren entwickeln sich in Mikroumgebungen – doch Krebs entwickelt sich in einer Person, die in viele umgebende Kontexte eingebettet ist...
Hier, im ersten Teil tragen wir Belege der letzten 20 Jahre aus dem Forschungsgebiet der Psychoneuroimmunologie zusammen, die ein Verständnis vermitteln, was Stress auf zellulärer und molekularer Ebene bewirkt (man soll ja immer mit der schlechten Nachricht beginnen). Im nächsten Beitrag machen wir dies mit durchaus Mut machenden Studienergebnissen wieder gut, die den Einfluss psychosozialer Interventionen für den Krankheitsverlauf unter die Lupe nehmen.
Über längere Zeit kann eine mit Stress einhergehende neuroendokrine Dynamik – vorrangig über Aktivierung von Sympathikus und HPA-Achse (Limbisches System-Hypothalamus-Zirbeldrüse-Nebenniere) – wichtige physiologische Prozesse zugunsten einer Tumorgenese aus der Bahn werfen, wie Sauerstoff-Metabolismus, DNA-Reparatur, Onkogen-Expression durch Viren oder somatische Zellen, Zell-Überleben, Inflammation, Produktion von Wachstumsfaktoren und anderen Regulatoren.
Wenn ein Tumor erst einmal entstanden ist, können Stress-bedingte neuroendokrine Faktoren die Aktivität von Proteasen, angiogenetischen Faktoren, Chemokinen und Adhäsionsmolekülen in Richtung Invasion (tissue remodeling und EMT), Metastasierung (Anoikis), Therapie-Resistenz und anderer Aspekte des Tumorprogresses modulieren.1,2
Trennung, Verlust nahestehender Personen und schwere Traumata bzw. PTBS sind Beispiele für Stressoren, die Änderungen in der HPA-Achse oder im vegetativen Nervensystem auszulösen imstande sind1 – also am meisten Ereignisse, die jemanden vollkommen unerwartet und tief in der Psyche treffen. Dabei kommt es nicht vordergründig auf die auslösende Situation an, sondern darauf, wie derjenige mit ihr umgeht. Bleibt ein solcher Schock unverarbeitet, wird er zu einer chronischen Quelle von Angst, Stress oder Depression, die die biochemischen Weichen für die Entstehung schwerer gesundheitlicher Probleme stellen können. Es reichen aber auch gewöhnliche alltägliche Stressoren, Ärger auf der Arbeit oder im sozialen Umfeld, sowie chronische Schlafstörungen – hier macht die Dauerhaftigkeit das Gift.
Stress kompromittiert verschiedene Schnittstellen des Immunsystems, wie Antigen-Präsentation, T-Zell-Proliferation, humorale und zelluläre Immunität – vorrangig durch die Ausschüttung von Katecholaminen und Glucocorticoiden.1 Stress geht zusätzlich mit niedrigen Leveln von O6-Methyl-Transferase einher, ein wichtiges DNA-Reparatur-Enzym.3
Außerdem mehren sich Hinweise für virale Ursachen der Tumorentstehung und Stresshormone beeinflussen die Aktivität zahlreicher Tumorviren, indem sie deren Replikation modulieren, virale Onkogene aktivieren, den Tumormetabolismus steigern und die Immunantwort regulieren.1 Zahlreiche Viren sind reagibel auf Glucocorticoide (Aktivierung der Genexpression von HPV, EBV, Hep B und C) oder Katecholamine (AIDS-assoziiertes B-Zell-Lymphom, Kaposi-Sarkom-assoziiertes Herpesvirus, Humanes T-lymphotropes Virus).
Eine wichtige Rolle für die Abwehr von Viren, aber auch Tumorzellen, kommt natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) zu, da sie die einzigartige Fähigkeit besitzen, Tumorzellen ohne vorangehende Sensibilisierung zu lysieren.4 Sowohl NK-Zellen, als auch zytotoxische T-Zellen steigern die IFN-Produktion, was das Tumorwachstum unmittelbar hemmt sowie die angeborene und erworbene Immunität gegen den Tumor koordiniert.
Sowohl im Tierversuch, als auch in klinischen Studien, konnte eine dramatische Herunterregulation der NK-Zell-Aktivität durch Stress beobachtet werden5, unter anderem in einer Untersuchung an Medizinern im 1. und 2. Studienjahr (bekanntlich ein gutes Modell für Stress). In Examensperioden kam es auch weit häufiger zu Reaktivierungen von latenten EBV- oder Herpes-Infektionen.6
Stress kann außerdem die Synthese von IFN-γ und IL-2 durch Lymphozyten verändern und sogar die NK-Zell-Antwort auf diese Mediatoren hemmen. IFN ist ein wichtiger Regulator für NK-Zellen, der ihr Wachstum und ihre Differenzierung stimuliert und ihre Fähigkeit zur Zerstörung von Zielzellen steigert.
Im murinen Modell verschiedener Tumoren konnte eine direkte Inhibition der Bildung von zytotoxischen T-Zellen gegen den Tumor durch Adrenalin und Noradrenalin nachgewiesen werden.1
Periphere Immunzellen halten sich in und um die Tumormikroumgebung (TME) auf und können maligne Geschehen entweder verhindern oder fördern. Sie sind empfänglich für beta-adrenerge Signale und sezernieren z.B. IL-6 und andere regulatorische Faktoren. Rekrutierung inflammatorischer Zellen in die primäre TME könnte als Biomarker für die Früherkennung eines Krankheitsprogresses herangezogen werden (oder als prognostischer Indikator für den therapeutischen Erfolg).4
Neuere Arbeiten schreiben der Stress-vermittelten Immunmodulation von lymphoiden und myeloiden Zellen und chronischer Entzündung durch Zytokine (z.B. IL-6) einen Vorhersagewert für Tumorprogress, Metastasierung und Rezidiv zu.4
Fast alle Zellen des Immunsystems besitzen Rezeptoren für Stresshormone.7 Über diese können die Zellen direkt - und durch Dysregulation der Cytokin-Synthese auch indirekt (v.a. IFN, Interleukine, TNF) - beeinflusst werden.
Des Weiteren fördern Hormone, die den Sympathikus aktivieren, auch die Tumor-Angiogenese. Noradrenalin bewirkt eine Hochregulierung von VEGF und begünstigt Invasion und Metastasierung.1 In vitro steigert es die Migration von Colon-Carcinom-Zellen.8 Über eine Stimulation von MMPs (Matrix-Metallo-Proteinasen) erhöhen Nordadrenalin und Adrenalin auch das invasive Potential von Ovarial-Carcinom-Zellen.1,9 Mamma-Carcinom-Zellen besitzen ebenfalls β-Rezeptoren, deren Aktivierung durch Katecholamine zu beschleunigtem Tumorwachstum führt.1
Glucocorticoide induzieren in Lymphozyten Apoptose, während sie in Tumorzellen sowohl in vitro als auch in vivo Überlebensgene aktivieren, die die Krebszellen vor den Wirkungen von Chemotherapeutika schützen und sie resistent gegen Apoptose werden lassen.10
Sie können außerdem onkogene Viren aktivieren und Immunantworten gegen Viren und Tumoren unterdrücken.
Chemotherapie und Radiatio haben häufig schwere Nebenwirkungen, die ihre Effektivität limitieren. Glucocorticoide werden oft in der Mitbehandlung eingesetzt (zur Reduktion von Übelkeit, Hyperemesis und akuter Toxizität) – diese Daten lassen Bedenken hinsichtlich des weit verbreiteten Einsatzes von Glucocorticoiden in Kombination mit anti-neoplastischen Medikamenten aufkommen.
Unkontrollierbarer Stress wird in der Regel sowohl mit erhöhten Katecholamin-, als auch Cortisol-Spiegeln einhergehen – was einen synergistischen Effekt auf das Tumorwachstum hat.
Ein zentraler Baustein im Zusammenhang zwischen Stress und Krebs ist Schlaf. Nicht nur, dass Stress zu entgleisten Schlafmustern führt – chronisch unterbrochener Schlaf oder chronisches Jetlag durch Schichtarbeit und ähnliches unterbrechen endokrine Rhythmen und kompromittieren das Immunsystem auf vielfältige Weise. Eine Studie an Krankenschwestern konnte zeigen, dass Nachtschichten einen Risikofaktor für Mamma- und Colon-Carcinom darstellen.11 Mehrere klinische Studien bestätigten, dass der Zustand zirkadianer Rhythmen sogar das langfristige Tumor-Überleben vorhersagen kann.1
Was haben die Glucocorticoid-Rhythmen mit der Funktion des Immunsystems zu tun? Gestörter Schlaf steigert die Ausschüttung von Cortisol und die Expression pro-inflammatorischer Zytokine (z.B. IL-6 und TNF-α).1 Diese wiederum können die Tumorentstehung begünstigen (induzieren DNA-Schäden oder hemmen DNA-Reparatur durch Erzeugung von ROS). Pro-inflammatorische Zytokine können darüber hinaus auch Tumor-Suppressor-Gene inaktivieren, das Wachstum und Überleben von Tumorzellen speisen, die Angiogenese stimulieren und die TME nachteilig beeinflussen12
In der Fortsetzung dieses Beitrages gehen wir ins klinische Setting und stellen – auf der Suche nach erfolgreichem Stress-Management – sehr interessante, repräsentative Studienergebnisse von Krebs-Patienten während und nach Therapie vor.
Hier geht es zum zweiten Teil.
Quellen:
1. Antoni, M. H. et al. The influence of bio-behavioural factors on tumour biology: pathways and mechanisms. Nature Reviews Cancer 6, 240–248 (2006).
2. Green McDonald, P., O’Connell, M. & Lutgendorf, S. K. Psychoneuroimmunology and cancer: A decade of discovery, paradigm shifts, and methodological innovations. Brain, Behavior, and Immunity 30, S1–S9 (2013).
3. Reiche, E. M. V., Nunes, S. O. V. & Morimoto, H. K. Stress, depression, the immune system, and cancer. Lancet Oncol. 5, 617–625 (2004).
4. Powell, N. D., Tarr, A. J. & Sheridan, J. F. Psychosocial stress and inflammation in cancer. Brain Behav. Immun. 30 Suppl, S41-47 (2013).
5. Lutgendorf, S. K. et al. Social support, psychological distress, and natural killer cell activity in ovarian cancer. J. Clin. Oncol. 23, 7105–7113 (2005).
6. Psycho-oncology and Cancer: Sifting Through the Evidence. Medscape Available at: http://www.medscape.org/viewarticle/444136. (Accessed: 3rd February 2018)
7. Glaser, R. & Kiecolt-Glaser, J. K. Stress-induced immune dysfunction: implications for health. Nature Reviews Immunology 5, 243–251 (2005).
8. Masur, K., Niggemann, B., Zanker, K. S. & Entschladen, F. Norepinephrine-induced migration of SW 480 colon carcinoma cells is inhibited by beta-blockers. Cancer Res. 61, 2866–2869 (2001).
9. Sood, A. K. et al. Stress hormone-mediated invasion of ovarian cancer cells. Clin. Cancer Res. 12, 369–375 (2006).
10. Herr, I. et al. Glucocorticoid cotreatment induces apoptosis resistance toward cancer therapy in carcinomas. Cancer Res. 63, 3112–3120 (2003).
11. Schernhammer, E. S. et al. Night-shift work and risk of colorectal cancer in the nurses’ health study. J. Natl. Cancer Inst. 95, 825–828 (2003).
12. Balkwill, F. & Mantovani, A. Inflammation and cancer: back to Virchow? Lancet 357, 539–545 (2001).