Sollten wir "indolente" Tumoren anders nennen, um Ängste und Schäden durch unnötig invasive Abklärungen und Therapien zu senken?
Die Diagnose "Krebs" löst oft maximale Angst und Schrecken bei den Betroffenen und deren Angehörigen aus. In einer kürzlichen Publikation im British Medical Journal diskutieren zwei Experten den Umgang mit dem Terminus.1,2
Prof. Laura J. Esserman, Onkologin und Chirurgin an der Universität Kaliforniens und ärztliche Leiterin des Franc Buck Breast Care Centers in San Francisco, vertritt die Ansicht, dass es Patienten unnötig beunruhigt, Low-Risk-Tumoren als Krebs zu bezeichnen. Dr. Murali Varma, Histopathologe an der Universität Cardiff, hält dem entgegen, dass alternative Termini für Verwirrung sorgen könnten und bessere Information die Lösung wäre.
Die klinische Definition von Krebs beschreibt eine Erkrankung, die unbehandelt rücksichtslos wächst, in andere Organe streut und den Betroffenen vernichtet. Doch inzwischen adressieren wir mit dem Wort "Krebs" routinemäßig eine äußerst heterogene Erkrankung, deren Metastasierungspotential von ultra-low (Wahrscheinlichkeit eines Progresses < 5% über zwei Jahrzehnte) bis hin zu extrem hoch (Risiko einer Progression > 75% über 1-2 Jahre) reicht.
Viele Schilddrüsen-, Prostata- und Brustkrebsfälle sind Ultra-Low-Risk-Läsionen. Prof. Esserman ist überzeugt, dass ethische Gesichtspunkte allein von uns verlangen, mit diesen Bezeichnungen sehr exakt und umsichtig umzugehen, um vermeidbaren Schaden und Leid durch unnötig invasive Untersuchungen und Therapien zu vermeiden – sei es psychisch, körperlich oder finanziell.
Prof. Esserman illustriert dies mit einem Beispiel aus Ihrem Spezialgebiet. Die Diagnose "Brustkrebs" umfasst heutzutage eine Bandbreite von Erkrankungen, von Neoplasien mit hohem Risiko für Frührezidive, die die höchste Wahrscheinlichkeit mitbringen, zytotoxische und biologische Therapien zu erfordern, über solche mit einem Risiko für Spätrezidive, die möglicherweise mit Hormontherapie am besten fahren, bis hin zu Ultra-Low-Risk-Tumoren und solchen, deren 10-Jahres-Überleben (selbst ohne systemische Therapie) gen 100% geht.
Eine Erkrankung, die harmlos oder indolent ist bzw. so gut wie nie metastasiert, entspricht eigentlich nicht der eingangs genannten klinischen Definition einer Krebserkrankung.
Moderne Screening-Verfahren haben zu gesteigerter Erkennung und Therapie von Ultra-Low-Risk-Tumoren geführt. In früheren Beiträgen zu Mammographie und PSA‑Screening hatten wir das Problem der Überdiagnostizierung und Übertherapie bereits thematisiert und mit Zahlen veranschaulicht. Bis zu einem Drittel aller im Screening entdeckten Mammakarzinome könnten in die Ultra-Low-Risk-Kategorie fallen. Dennoch werden Frauen mit Low-Risk-Läsionen (duktales Carcinoma in situ, DCIS) "überstürzt in die OPs gedrängt, was eine lebenslange Angst herbeiführt", sagt Prof. Esserman.
In der Vergangenheit war es nicht möglich, Läsionen mit minimalem Risiko verlässlich zu identifizieren. Heute werden molekulare Klassifikationen und andere Eigenschaften von Ultra-Low-Risk-Tumoren erforscht. Genomische Tests verbessern unsere Einschätzung von Risiko und Zeitpunkt eines Rezidivs, aber wir nutzen diese noch nicht, um unsere Nomenklatur zu präzisieren. Prof. Esserman meint, dass dies einer der wichtigsten Schritte wäre, die wir unternehmen können, um Outcomes und Lebensqualität von Krebspatienten zu verbessern.
Untersuchungen und invasive Interventionen bringen selbst viele Risiken mit sich. Eine Übertherapie von Patienten, die kein Risiko haben zu sterben, "verbessert nicht das Leben derer mit dem höchsten Risiko." Prof. Esserman empfiehlt in solchen Fällen häufig eine aktive Überwachung. "Aber es ist schwierig, Patienten zum Abwarten und Beobachten zuzureden, nachdem ihnen gesagt wurde, dass sie Krebs haben."
Bereits in einer früheren Publikation schlug sie die Einführung der Bezeichnung IDLE (indolente Läsion epithelialer Herkunft) vor.3
Dr. Varma spricht sich stattdessen dafür aus, die öffentliche Aufklärung über das Wesen einer Krebsdiagnose zu priorisieren. Er sähe in der Einführung neuer Entitäten das Risiko für Unübersichtlichkeit.
Er ist allerdings auch überzeugt, dass die Häufigkeit von Überdiagnostizierung eher unterschätzt wird, da es bei vielen "geheilten Tumoren" auch unbehandelt zu keinem Progress gekommen wäre. "In der Praxis ist es unmöglich, den natürlichen Verlauf von Low-Risk-Tumoren zu bestimmen, da die Exzision zur definitiven Diagnose den natürlichen Verlauf ändert und somit ausschließt, dass man je erfahren kann, wie der Tumor sich unbehandelt verhalten hätte."
Er schlägt als Alternative vor, die Schwelle für die Diagnostizierung einer Krebserkrankung anzupassen, sodass Tumoren mit sehr niedrigem Risiko als "benigne" eingeordnet würden. "Wenn die Bevölkerung darüber aufgeklärt würde, dass "benigne" ein sehr geringes Risiko bedeutet, anstatt gar kein Risiko, dann könnten angstmachende Benennungen vermieden werden" schließt er.
Eine Redakteurin des BMJ beschreibt in einem Patientenkommentar, wie zwei "verdächtige Läsionen" in weniger als einem Jahr ihr beträchtliche Sorgen bereitet hatten. Trotz des niedrigen Risikos beunruhigte sie "die verwirrende Terminologie für Krebs und Krebsvorstufen." Selbst der Entlassbrief war für sie ein weiterer Angstauslöser. Die Formulierung war keine Bezeichnung wie Krebs, aber "es fühlte sich an, als hätte sie eine versteckte Bedeutung, die dem Patienten verborgen bleiben sollte."
Referenzen:
1. Esserman, L. J. & Varma, M. Should we rename low risk cancers? BMJ 364, k4699 (2019).
2. Should we rename low-risk cancers? ScienceDaily Available at: https://www.sciencedaily.com/releases/2019/01/190123191640.htm. (Accessed: 17th February 2019)
3. Esserman, L. J. et al. Addressing overdiagnosis and overtreatment in cancer: a prescription for change. Lancet Oncol. 15, e234-242 (2014).