esanum: Prof. Neu, als Sie vor rund eineinhalb Jahren Präsident der DDG wurden, haben Sie sich vorgenommen, den Kinderdiabetes in den Fokus zu rücken. Wie weit sind Sie gekommen?
Neu: Die Kinderprojekte der DDG nehmen einen guten Fortgang. Ein Paradebeispiel ist das Ketoazidose-Präventionsprojekt. Seit etwa 20 Jahren hatten wir eine Rate der schweren Stoffwechselentgleisungen bei Neuerkrankung im Kindesalter um die 25 Prozent. In dieser Zeit hat sich also nichts verbessert. Mit einem Stuttgarter Präventionsprojekt konnte innerhalb von drei Jahren eine deutliche Reduktion der Ketoazidose auf 16 Prozent erreicht werden.
Dieses Modell der Aufklärung beim Schuleingang, in Kitas und so weiter, haben wir gemeinsam mit den niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten auf die Bundesebene übertragen – und haben uns vorgenommen, die Ketoazidose bei Neumanifestation so weiter zu reduzieren. Das ist insbesondere unter den Bedingungen der Corona-Pandemie relevant, da sich die Rate der Ketoazidose in dieser Zeit nahezu verdoppelt hat. Erfolge des Projektes wird man in etwa drei Jahren beurteilen können.
esanum: Warum haben Fälle von Ketoazidose in der Pandemie so zugenommen?
Neu: Vermutlich sind das strukturelle Probleme. Viele Routinesprechstunden sind ausgefallen. Arztbesuche wurden vermieden. So erfolgte die Diagnosestellung deutlich verzögert. Das beweist, wie wichtig eine flächendeckende, kontinuierliche Versorgung und kontinuierliche Aufklärung sind. Wir haben jetzt als Pilotprojekt einen LKW mit dem Schriftzug "Diabetes erkennen" versehen und die vier Kardinalsymptome als Piktogramme dazu abbilden lassen - und so die Aufklärung buchstäblich auf die Straße und ins Rollen gebracht.
esanum: Welche Rolle wird Kinderdiabetes auf dem DDG Kongress 2022 spielen?
Neu: Die Kinderdiabetologie ist derzeit von enormen technischen Veränderungen geprägt. Wir haben neue Pumpensysteme, neue CGM-Systeme und neue automatisierte Insulin Delivery Systeme. Es ist schwierig, hier Schritt zu halten. Dem stellt sich der Kongress thematisch und rückt diese Innovationen in den Fokus. Ferner wird es um den Beginn der Behandlung gehen und auch die kindliche Adipositas als Vorstufe für den Typ 2 Diabetes wird eine wesentliche Rolle spielen.
esanum: Welche wesentlichen Schwerpunkte wird der Kongress bieten? Und worauf freuen Sie sich besonders?
Neu: Den letzten normalen Kongress hatten wir 2019. 2020 fiel er wegen der Pandemie komplett aus, 2021 haben wir ihn ausschließlich digital durchgeführt. Und jetzt gibt es erstmals nach drei Jahren wieder die Möglichkeit, sich im Rahmen des Kongresses persönlich zu begegnen und zu diskutieren. Und da es sich um eine Hybrid-Veranstaltung handelt, können sich Kolleginnen und Kollegen zuschalten, die sonst vielleicht nicht dabei wären - insbesondere internationale Redner. An zwei Kongresstagen werden wir englischsprachige Symposien mit renommierten internationalen Referenten haben. Das Hybridformat könnte insbesondere auch für Hausärztinnen und Hausärzte attraktiv sein, wenn sie sich einzelne Symposien anhören können, ohne gleich mehrere Tage dabei sein zu müssen.
esanum: Krempeln die neuen Therapien den Alltag für Mediziner und Patienten um?
Neu: Allein die technischen Innovationen bedeuten ein ganz anderes Vorgehen als noch vor wenigen Jahren. Techniken wie die kontinuierliche Glukosemessung, die früher wenigen vorbehalten waren, sind heute Standard. Die Übertragung neuer Erkenntnisse in die Breite geht inzwischen rasend schnell. Das gilt auch für die medikamentösen Strategien. Die Fortbildung der Ärztinnen und Ärzte ist hier natürlich unverzichtbar.
esanum: Sind Sie also optimistisch für den Kampf gegen diese Erkrankung?
Neu: Durchaus. Wir kennen inzwischen viele einzelne Facetten der Erkrankung und das Verständnis der Grundlagen ist wesentlich gewachsen - insbesondere für die Subtypen des Typ 2 Diabetes. Unsere Therapiestrategien können wir dementsprechend anpassen und individuell gestalten. Aber bei allen Innovationen und Erleichterungen dürfen wir nicht vergessen: der Diabetes bleibt eine chronische Erkrankung und Belastung. Auch für diese Aspekte bietet der Kongress genug Raum - mit Workshops und Seminaren zur Patientenführung und zur Gesprächsführung.