Aktuell begegnen Kinder- und Jugendärzte einer Zunahme der Typ-2-Diabetes-Erkrankungen, und das bereits im frühen Jugendalter, so Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin (Universitätsklinikum Halle (Saale)) und Sprecherin der AGA (Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter). Durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehende verstärkte Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen, hat sich das Alter der Entwicklung eines Typ-2-Diabetes in frühere Jahre verschoben, bestätigt auch Prof. Joisten, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Sportmedizin und Ernährungsmedizin (DSHS Köln) und Vorstandsmitglied der AGA. Daher ist eine zeitige Intervention unerlässlich. Hier gilt laut Susanne Fricke-Otto, Leiterin des Bereichs Endokrinologie und Diabetologie am Helios Klinikum Krefeld: "Die Intervention muss so früh wie möglich getroffen werden, spätestens in der Pubertät".
Joisten und Weihrauch-Blüher gehen sogar noch einen Schritt weiter und plädieren für eine Prävention bereits während einer Schwangerschaft. Durch die Verhinderung einer übermäßigen Gewichtszunahme von Mutter und Kind, aber auch durch die Vermeidung eines zu geringen Geburtsgewichtes – beides Risikofaktoren für eine spätere Adipositas. Je früher eine Intervention stattfindet, desto bessere Erfolge sind zu verzeichnen.
Geht es nun um die konkreten Arten der Lebenstilinterventionen bei der Behandlung von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, erfolgt eine Therapie selbstverständlich stets individuell. Prof. Joisten erwähnt hier beispielsweise eine Anpassung der Portionsgrößen, die Änderung der Lebensmittelauswahl, die Steigerung der körperlichen Aktivität oder die Nutzungsreduktion audiovisueller Medien. Allerdings können auch innerfamiliäre Konflikte oder Mobbing in der Schule Auslöser für eine frühe Adipositas sein.
Alles in allem geht es darum, Kinder möglichst früh gesundheitskompetent auszubilden, sind sich die Expertinnen einig. Dies könnte auch in Schulen erfolgen, beispielsweise durch die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen, in denen über Bewegung, gesunde Ernährung sowie einen adäquaten Medienkonsum aufgeklärt wird, plädiert Dr. Fricke-Otto.
Die aktuelle S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter1 befürwortet eine Adipositastherapie im Rahmen der primären Gesundheitsversorgung, die sich ebenso auf die von Dr. Fricke-Otto genannten Punkte bezieht. Im Idealfall erfolgt eine individuell zugeschnittene Intervention, die sich nicht nur an die Betroffenen, sondern auch deren Familien richtet, betont Dr. Weihrauch-Blüher. Ein optimales multimodales Programm umfasse die Komponenten Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie.
Zwar besteht eine genetische Prädisposition für die Veranlagung, eine Adipositas zu entwickeln – bisher sind dafür über 400 Kandidatengene bekannt, hält Dr. Weihrauch-Blüher fest. Allerdings hängt die schlussendliche Manifestation einer Adipositas in den meisten Fällen vom Lebensstil der einzelnen Patienten ab. Dr. Fricke-Otto spricht sich für einen Ansatz bereits bei den Eltern aus. Diese sollten dazu angehalten werden, ihre Kinder gesund zu ernähren und ihnen viel Bewegung zu verschaffen. Im Zweifel sollten sie – gemeinsam mit ihren Kindern – ihre täglichen Gewohnheiten verändern. Denn sie sind, laut Prof. Joisten, prägende Rollenmodelle. Nichtsdestotrotz muss ggf. eine monogenetische bzw. syndromale Adipositas detektiert werden, da in diesem Fall lebensstiländernde Maßnahmen lediglich unterstützend wirksam sind.
Sollte die Adipositas in einem Typ-2-Diabetes resultieren, gibt es aufgrund des relativ neuen Phänomens in der Kinder- und Jugendmedizin bisher lediglich die Therapieoptionen der Lebensstilintervention sowie z.B. Metformin und Insulin als medikamentöse Optionen. Generell zugelassen sind entsprechende Medikamente erst ab 12 Jahren. Neu zugelassen für die Indikation Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen sind nun auch Medikamente aus der Gruppe der GLPI-Rezeptoragonisten. Weitere Medikamente gibt es für die jungen Betroffenen bisher nicht, allerdings geht Dr. Weihrauch-Blüher von einem großen Erkenntnisgewinn sowie neuen medikamentösen Behandlungsoptionen innerhalb der nächsten Jahre aus. Eine multifaktorielle Behandlung sei jedoch das A und O, resümiert Prof. Joisten.
Generell lässt sich sagen: Prävention ist immer einer interventionellen Therapie vorzuziehen. Bundesagrarminister Özdemir plant beispielsweise mehr Kinderschutz in der Werbung für Süßigkeiten und andere ungesunde Nahrungsmittel, dieses Vorhaben und weitere Pläne "könnten ein Meilenstein für die Kindergesundheit werden", hält Dr. Weihrauch-Blüher fest. Weitere gesundheitspolitische Initiativen zur Primärprävention von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen sind wünschenswert, so unsere Interviewpartnerinnen. Eine übergreifende Herangehensweise, die sich nicht auf das Gesundheits-/Ernährungssystem beschränkt, sondern auch auf die Bereiche der Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Arbeitsmarkt-, Verkehrs- oder Wirtschaftspolitik. In all diesen Sektoren sollte eine lebensstilbezogene Gesundheitskompetenz gefördert werden, einhergehend mit einer bewegungsfreundlichen Lebensweltausgestaltung, den Ausbau von Rad- und Fußgängerwegen, führt Prof. Joisten aus.
Insbesondere für Kinder und Jugendliche würde sich laut Dr. Fricke-Otto mehr Sport und Bewegung an Schulen auszahlen, zusätzlich dazu Ernährung und Lebensstil als Schulfach.
Das Thema wird unter anderen ausführlich auf dem DDG Kongress 2023 diskutiert. Weitere Highlights finden Sie in unserer Kongressberichterstattung.