esanum: Prof. Kleinridders, Sie beschäftigen sich mit Aspekten des emotionalen Essens. Was ist damit gemeint?
Prof. Kleinridders: Wir sehen den weltweiten Anstieg der Adipositas. Und die Statistiken zeigen, dass sie von zu viel Nahrungsaufnahme ausgelöst wird. In unserer gestressten Gesellschaft, in der wir auch immer mehr emotionale Störungen haben, ist das Essen für viele ein Mittel, um aus dem negativen Stress, der aus Überforderungen entsteht, herauszukommen. Essen soll dann wieder glücklich machen. Das funktioniert über hochkalorische Nahrungsmittel, die das Dopaminsystem anregen.
esanum: Warum ist das so?
Prof. Kleinridders: Das ist evolutionär recht einfach zu erklären. Hochkalorische Nahrung ist wichtig für das Überleben. Das ist unbewusst gelernt. Es wurde gezeigt, dass ungefähr 40 Prozent der Menschen, wenn sie negativ gestresst sind, zu diesen für sie ungünstigen Nahrungsmitteln greifen.
esanum: Zucker und Fett gelten für die Gesundheit schon lange als Gefahren. Was wissen wir über die Übeltäter im Essen wirklich?
Prof. Kleinridders: Die Aufnahme von Nahrung mit einfachem Zucker und langkettigen Fettsäuren stimuliert zwar kurzfristig das Belohnungssystem, verschlechtert aber langfristig die Insulinwirkung. Das zieht emotionale Störungen nach sich, wie in Tierversuchen kausal gezeigt werden konnte. Wenn der Insulinrezeptor fehlt, entwickeln die Tiere emotionale Veränderungen.
esanum: Was sind die wesentlichen Fragestellungen Ihrer Forschungen?
Prof. Kleinridders: Wir gucken uns in Zellkulturen und Tieren genau an und versuchen zu verstehen, welche Nahrung die Insulinresistenz bedingt - und wir fragen: gibt es hochkalorisches Essen, das keine Insulinresistenz mit sich bringt? Das wäre natürlich wunderbar. Wenn wir identifizieren, welche Nahrung einerseits den Dopaminausstoß fördert und andererseits keine Insulinresistenz verursacht, dann könnten wir theoretisch aus diesem Teufelskreis herauskommen.
esanum: Was ist bekannt und wo forschen Sie intensiv weiter?
Prof. Kleinridders: Eine neue Studie von Dr. Thanarajah hat gezeigt, was passiert, wenn Probanden hochkalorische Milchshakes zu sich nehmen. Und sie fand klare Veränderungen im zentralen Nervensystem. Das hatte auch Einfluss auf die Kognition. Die Milchshakes aktivieren kurzfristig das Belohnungssystem und beeinflussen Vorlieben beim Essen. Das Gehirn bevorzugt dann diese Lebensmittel. Ungesunde Nahrung verändert auch den Geschmack. Dies könnte ein Grund sein, warum manche adipöse Menschen fettreiche Kost bevorzugen. Dies ist seit langem klar, aber jetzt wollen wir genauer wissen, welche Nahrungsbestandteile das bewirken. Denn es gibt ja auch sehr gute Fette, die wichtig für uns sind. Und unser Gehirn braucht Zucker.
Natürlich kann man Ernährung nie isoliert betrachten. Sie muss auch mit dem Lebensstil zusammen gesehen werden. Ein Beispiel: Tour de France-Teilnehmer verbrennen die freien, einfachen Zucker in ihren Glucose-Fructose-Mischungen sofort, ohne schädliche Wirkung.
esanum: Was ist also die Problemstellung?
Prof. Kleinridders: Wir haben eine Studie (DOI: 10.1016/j.molmet.2019.01.001) publiziert, in der es differenziert darum geht, welche Fettsäuren gesund und welche ungesund sind. Und wir haben gesehen, dass sich die Insulinresistenz bei der verschiedenen fettreichen Diät in Leber und Gehirn ganz unterschiedlich auswirkt. Cholesterol ist sehr schädlich für die Leber, hat aber im Zentralnervensystem keinen Einfluss auf die Insulinsensitivität. Und wir konnten zeigen, dass vor allem die langkettig gesättigte Fettsäure, die Palmitinsäure, welche in so vielen Nahrungsmitteln steckt, die Insulinresistenz auslöst. Omega-6-Fettsäuren, die immer verteufelt werden, hatten dagegen keinen starken negativen Einfluss gehabt.
Die nächste Frage ist: Was ist mit dem Zucker? Wir wissen, dass freie, einfache Zucker in hohen Konzentrationen toxisch wirken können. Und was ist mit der Fructose? Das wollen wir in Zellkulturen noch genauer untersuchen. Dies untersuchen wir in dopaminergen Neuronen, die eine wichtige Rolle im Belohnungssystem und der Emotionalität spielen. Da wollen wir wissen, ob sich die Funktion dieser Neuronen durch bestimmte ungesunde Nährstoffe verändert.
esanum: Suchen Sie demnach so etwas wie den Code dafür, dass Menschen sich gesund essen können?
Prof. Kleinridders: Das ist unser Langzeitziel. Wir wollen Nährstoffe identifizieren, die uns glücklich machen, aber trotzdem gesund sind. Insulinresistenz ist ja DAS Merkmal für Adipositas. Und wir glauben, wenn wir diese verhindern oder reduzieren können, dann können wir auch gegen bestimmte emotionale Veränderungen vorankommen.
Um ein Beispiel zu nennen: Könnte man nicht bessere, gesündere Milchshakes herstellen? Denn wir müssen ja nicht nur gute Fettsäuren identifizieren, sondern auch solche finden, die eine gute Sensorik haben, die also die Menschen auch essen können und wollen. Das muss interdisziplinär erforscht werden. Da müssen dann auch Sozialforscher und Verhaltensforscher eingebunden sein - bis hin zu Köchen und Bäckern.
esanum: Wann sind weitere Antworten zu erwarten? Und was folgt dann aus diesem spezifischen Wissen?
Prof. Kleinridders: Ergebnisse auf zellulärer Ebene können wir in der Regel innerhalb mehrerer Monate erzielen. Komplexe Ergebnisse im menschlichen Körper zu identifizieren und darzustellen - das wird noch Jahre in Anspruch nehmen. Und dann müssen wir mit diesem Wissen an die Öffentlichkeit gehen. Denn es wird nur Wirkungen zeigen, wenn die Gesellschaft einen Vorteil davon hat. Verbote funktionieren selten, aber wenn man adäquate Alternativen bieten kann, die die gewünschten Effekte auslösen und die schädlichen vermeidet, dann wird das eher angenommen.
Prof. Dr. André Kleinridders ist Leiter des Lehrstuhls Molekulare und Experimentelle Ernährungsmedizin am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Potsdam und untersucht dort den Einfluss der Ernährung auf den Stoffwechsel und die Gehirnfunktion. Dabei hat er vor allem die Regulation der Insulinsensitivität im Blick.