Die Inzidenz des Typ-1-Diabetes ist in den letzten drei Jahrzehnten um jährlich 3 bis 4 Prozent gestiegen. Schon vor der Pandemie (2011 bis 2019) zeigte die Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV), die in Deutschland über 90 Prozent der pädiatrischen Typ-1-Diabetesfälle erfasst, eine Zunahme von 2,4 Prozent pro Jahr. Die Gründe dafür sind nicht bekannt.
Als chronische Autoimmunerkrankung wird der Typ-1-Diabetes auf ein Zusammenspiel von genetischer Disposition und Umweltfaktoren zurückgeführt. Ein möglicher Risikofaktor scheinen respiratorische Virusinfektionen in früher Kindheit zu sein. Dies könnte theoretisch auch für COVID-19 gelten, was aber bisher nicht mit Sicherheit belegt wurde.
Privatdozent Dr. Clemens Kamrath von der Universität Gießen und sein Team haben mit ihrer Auswertung der DPV nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der COVID-19-Pandemie und der Inzidenz des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen gesucht.
In den ersten 18 Monaten der Pandemie wurden in Deutschland 5.162 Neuerkrankungen an Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen registriert, was einer Inzidenz von 24,4 pro 100.000 Patientenjahre entspricht. Legt man den Trend der vorangegangenen Jahre (2011– 2019) zugrunde, wäre nur eine Inzidenz von 21,2/100.000 Patientenjahre zu erwarten gewesen. Die Wissenschaftler ermittelten einen 15 Prozent stärkeren Anstieg im Vergleich zu den Zeiten vor der Pandemie (relative Inzidenzrate 1,15), was signifikant war. Unter Sechsjährige waren offensichtlich besonders von dem Anstieg in den Pandemiezeiten betroffen – hier stieg die Inzidenz im Gesamtzeitraum zusätzlich um 23 Prozent (rIR 1,23) und im ersten Halbjahr 2021 sogar um 34 Prozent an (rIR 1,34).
Die monatsspezifische Analyse der Zahlen zeigte einen deutlichen Zusammenhang mit den ersten drei Wellen der Pandemie. Jeweils drei Monate nach dem Höhepunkt der Erkrankungsraten an COVID-19 wurde ein deutlicher Anstieg der Inzidenz an Typ-1-Diabetes beobachtet. So lag die rIR zwischen Juni und September 2020 bei 1,27 und flachte dann von Oktober 21 bis Februar 2021 wieder ab (rIR 1,05). Drei Monate nach der Winterwelle 20/21 stieg die rIR zwischen März und Juni 2022 dann wieder auf 1,27.
Zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 flachte die Zunahme wieder ab (rIR 1,05; 0,95-1,16). Etwa 3 Monate nach der Winterwelle stieg die rIR zwischen März und Juni 2021 wieder auf 1,27 (1,13-1,42).
Über die Ursachen des zeitlichen Zusammenhanges zwischen COVID-19 und Inzidenz des Typ-1-Diabetes kann nur spekuliert werden. Schon länger wird die Rolle von Viren als Trigger für Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes diskutiert. Da bei vielen betroffenen Kindern aber schon Jahre vor Manifestation des Typ-1-Diabetes bereits Autoantikörper im Blut nachweisbar sind, ist man bisher von einer längeren Latenzzeit ausgegangen, die deutlich über den hier beobachteten drei Monaten liegt. Eine andere mögliche Erklärung wäre ein direkter Angriff von SARS-CoV-2 auf die Betazellen des Pankreas. Dagegen spricht aber wiederum, dass die meisten Kinder bei Diagnose des Typ-1-Diabetes Autoantikörper im Blut hatten. Wäre die Schädigung direkt durch die Infektion bedingt, müsste der Anteil der Autoantikörper-negativen Kinder eigentlich höher sein, was nicht beobachtet wurde.
Auch indirekte Auswirkungen der Pandemie auf die Diabetesinzidenz sind denkbar, so die Autoren. Die Abnahme kindlicher Infektionen unter den Lockdown-Bedingungen könnte nach der Hygiene-Hypothese die Entstehung von Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes gefördert haben. Denkbar wäre auch, dass verstärkter psychischer Stress während der Pandemie das Erkrankungsrisiko erhöht hat.
All dies ist aber bisher nur Spekulation – zumal in dieser Studie aufgrund fehlender Daten zu COVID-19-Infektionen der betroffenen Kinder keine Aussagen über einen Zusammenhang auf individueller Ebene getroffen werden können.
Quelle:
Kamrath C et al; Incidence of Type 1 Diabetes in Children and Adolescents During the COVID-19 Pandemic in Germany: Results From the DPV Registry; Diabetes Care (2022)