Symptome des unteren Harntrakts sind weit verbreitet und betreffen ca. 60% der Männer und 57% der Frauen. Ein bewährtes Verfahren in der Ursachendiagnostik ist die Uroflowmetrie.
Diese ist ein wichtiges Instrument für die Beurteilung von Patientinnen und Patienten mit Symptomen. Nachteil hier ist jedoch, dass die Teilnehmenden bei ambulanten Besuchen in ein Gerät urinieren müssen. Der Trichter ist dabei mit dem Uroflowmeter verbunden, welches sehr detaillierte Informationen über den Fluss aufzeichnet. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie war der Zugang zu den Kliniken eingeschränkt. Oft war selbst dort, wo die Patientinnen und Patienten weiter gemessen werden konnten, die Wartezeit sehr lang, um eines der begehrten Analysegeräte nutzen zu können.
Dr. Lee Han Jie und Forschende vom Singapore General Hospital haben in Zusammenarbeit mit der Technikabteilung einen Algorithmus entwickelt, der ohne ambulantes Setting oder Wartelisten auskommen könnte. Zwischen Dezember 2017 und Juli 2019 wurden 534 männliche Teilnehmer rekrutiert, um die KI "Audioflow" zu trainieren und zu validieren. Die Teilnehmenden benutzten dabei zum Vergleich die übliche Uroflowmetrie-Maschine in einem schallgedämmten Raum und zeichneten zusätzlich die Geräusche ihres Wasserlassens mit einem Smartphone auf.
Anhand von 220 Aufzeichnungen lernte die KI, Flussrate, Volumen und Zeit zu schätzen. Daraus leitete die KI schließlich Hinweise ab, ob eine Obstruktion vorliegen könnte oder ob die Blase eventuell in ihrer Funktion eingeschränkt war.
In diesem ersten Lernschritt wurde die KI darauf trainiert, den männlichen Harnfluss mitzuhören und zu analysieren. Der Harnfluss bei Frauen unterscheidet sich, sodass für die Analyse des weiblichen Harnflusses eine separate Lerneinheit erforderlich sein wird.
Die Ergebnisse wurden mit denen eines herkömmlichen Uroflowmeters und mit denen eines Gremiums aus sechs urologischen Fachärztinnen und Fachärzten verglichen, die den Datensatz getrennt voneinander bewerteten. Die KI stimmte hierbei in über 80% der Aufzeichnungen mit der konventionellen Uroflowmetrie überein, und im Vergleich mit den spezialisierten Urologinnen und Urologen erreichte sie sogar eine Übereinstimmung von 84%. Das reiche aus, um mögliche Obstruktionen und Flussveränderungen zu detektieren und die Patienten in die Praxen zu bringen, so die Forschenden.
"Es gibt in vielen Bereichen einen Trend zum maschinellen Lernen, da Kliniker nur über begrenzte Zeitressourcen verfügen. Gleichzeitig gibt es, insbesondere seit der Pandemie, eine Verlagerung hin zur Telemedizin und zu weniger stationärer Versorgung. Wir wollten unbedingt eine Möglichkeit entwickeln, unsere Patienten zu überwachen, um zu sehen, wie es ihnen zwischen den Krankenhausbesuchen geht."
Dr. Han Jie Lee zum Ansatz hinter Audioflow.
Die Forschenden arbeiten im Weiteren daran, dass der Algorithmus auch dann funktioniert, wenn es in der normalen häuslichen Umgebung Hintergrundgeräusche gibt, denn das wird den wahren Unterschied für die Patienten ausmachen.
Audioflow wird in Singapur aktuell als Smartphone-App über Hausarztpraxen eingeführt, damit es in der realen Welt getestet werden und aus verschiedenen Datensätzen in unterschiedlichen Lärmumgebungen lernen kann.
Christian Gratzke, Professor für Urologie am Universitätsklinikum Freiburg und Mitglied des wissenschaftlichen Kongresskomitees der EAU22, schätzte das neue System im Interview ein:
"Wenn Patienten die Möglichkeit haben, den Harnfluss zu Hause zu messen, ist das für sie angenehmer und verkürzt die Wartezeit in der Klinik. Dies ist eine gut durchgeführte Studie mit einer großen Anzahl von Patienten und stellt einen vielversprechenden Ansatz für die Entwicklung einer mobilen App dar, die zu Hause verwendet werden kann. Ich freue mich darauf, die Ergebnisse aus dem Praxistest zu sehen."
Quellen:
Lee HJ et al., A0845: Development and validation of a deep learning system for sound-based prediction of urinary flow. Abstract Session 45 – Male LUTS, nocturia and NOUR: From evaluation to treatment, 37th Annual EAU Congress, Amsterdam