„Unverträglichkeit der Pille“: alles Einbildung oder Fakt?
Nehmen 1,4 Millionen Frauen in Deutschland die falsche Antibabypille? Und was sagen ihre betreuenden Gynäkologen dazu?
„Ärzte nehmen Beschwerden von Frauen aufgrund von Kontrazeptiva häufig nicht ernst“, lautete im Sommer 2019 eine Schlagzeile auf aerztezeitung.de.1 Berichtet wurde über eine Mitteilung der britischen Online-Arztpraxis Zava, derzufolge „schätzungsweise rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland“ die „falsche Antibabypille“ einnehmen.2 Für die „bundesweite Studie“ wurden 751 Frauen befragt. Dabei gaben neun von zehn Frauen (88 %) an, „während der Einnahme der Antibabypille schon einmal unter möglichen Nebenwirkungen gelitten zu haben“.
„Nebenwirkungen“: Anpassungsprozess, Unverträglichkeit oder „Grundrauschen“?
Die Liste der am häufigsten genannten Nebenwirkungen („Top 10“) entspricht dem bekannten Bild:
- Zwischen- und Schmierblutungen (42 %);
- Migräne oder Kopfschmerzen (39 %);
- Gewichtszunahme (33 %);
- Stimmungsschwankungen (21 %);
- unregelmäßige Periode (16 %);
- Libidoverlust (15 %);
- depressive Verstimmung (14 %);
- Ausschlag oder Akne (14 %);
- Übelkeit und Durchfall (14 %);
- Wassereinlagerungen (11 %).
Im Schnitt klangen diese Beschwerden in Zweidrittel der Fälle innerhalb der ersten 3 Monate wieder ab. Über 30 % der befragten Frauen litten allerdings „länger als 6 Monate oder sogar über Jahre“ unter Anzeichen einer Pillen-Unverträglichkeit. Dabei vermied es ein Fünftel der Anwenderinnen (22 %), mit dem Arzt über die Beschwerden zu sprechen. Auf diesem Prozentsatz beruht der „1,4 Millionen“-Schätzwert, unter Bezugnahme auf Angaben der Techniker Krankenkasse, wonach etwa 7 Millionen Frauen hierzulande mit oralen Kontrazeptiva verhüten.2
Erfahren Sie immer, was Ihre Patientinnen bewegt?
Als Gründe für die Schweigsamkeit gegenüber dem Arzt wurden genannt:
- fehlender Zusammenhang zwischen den Symptomen und der Einnahme der Pille (31 %);
- das Gefühl, die Beschwerden nicht mit dem Gynäkologen besprechen zu können (11 %);
- die Befürchtung, der Arzt könnte zum Absetzen der Pille raten (10 %);
- die Angst vor Symptomverschlechterung bei Wechsel des Kontrazeptivums (9 %).
Und wie „reagieren Ärzte, wenn Frauen von ihren Nebenwirkungen berichten“? Laut der Zava-Studie so:
- „Prüfen, ob ein Wechsel auf eine andere Pille oder andere Verhütungsmethode sinnvoll ist.“ (50 %)
- „Geben einen Rat, wie sich Nebenwirkungen mildern lassen.“ (41 %)
- „Sagen, dass es sich um die üblichen Nebenwirkungen handelt und unternehmen nichts weiter.“ (22 %)
- „Sagen, dass die Symptome keine Nebenwirkungen der Pille sind.“ (10 %)
- „Schließen andere mögliche Ursachen aus und/oder raten zu einem Besuch beim Hausarzt.“ (8 %)
Hochgradige Evidenz: Fehlanzeige
Die Frage, was die Evidenz zu den häufig beklagten – und im Beipackzettel aufgeführten – Nebenwirkungen oraler Kontrazeptiva sagt, wird in der Zava-Mitteilung nicht thematisiert. Für die Mehrzahl der Beschwerden, die mit der Einnahme oraler Kontrazeptiva assoziiert werden, gibt es keine konsistenten wissenschaftliche Belege für einen kausalen Zusammenhang. Das gilt etwa für Stimmungsschwankungen, Kopfschmerzen, Gewichtszunahme oder Libidoverlust. Einerseits ist das Studiendesgin für einen entsprechenden Nachweis häufig unzureichend, etwa bei Beobachtungsstudien oder bei fehlendem Placebo-Vergleich. Andererseits wurden in diversen randomisierten Studien ähnlich hohe Prävalenzen der betreffenden Symptome auch in den Placebo-Gruppen beobachtet.3,4,5,6,7
Sollte man angesichts des Nocebo-Phänomens und des „Hintergrundrauschens“ an unspezifischen Beschwerden in der Bevölkerung also auf die Thematisierung von eher mythenbasierten „Nebenwirkungen der Pille“ verzichten, wie schon gefordert wurde6?
Empathische Beratung klammert nicht aus, sondern klärt auf und prüft nach
Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden, in der Presse und den sozialen Medien genährten „Hormonskepsis“ erscheint das heute kontraproduktiv. Die Bedenken der (potenziellen) Anwenderinnen sollten in der gynäkologischen Beratungspraxis ernst genommen und angemessen – also auch mit Verweis auf die bestehende oder fehlende Evidenz – besprochen werden. Denn Unverträglichkeiten und unerwünschte Nebenwirkungen gefährden die Adhärenz und führen häufig zum Absetzen oraler Kontrazeptiva – ob sie nun „eingebildet“ sind oder nicht.
Es ist naheliegend anzunehmen, dass verschiedene Frauen unterschiedlich sensibel auf die zugeführten Hormone und deren Effekte reagieren. Die empathische Betreuung durch die Gynäkologin bzw. den Gynäkologen bietet der Anwenderin die nötige Unterstützung, um bei negativen Erfahrungen bzw. Gefühlen ihren Wissensstand und ihre Einstellung zu optimieren, andere mögliche Ursachen zu erfassen – oder das Kontrazeptivum zu wechseln.
- Antibabypille – Ärzte nehmen Beschwerden von Frauen aufgrund von Kontrazeptiva häufig nicht ernst. Ärzte Zeitung Online, 15.08.2019 (aerztezeitung.de; Zugriff am 24.01.2020)
- Nehmen Sie die falsche Antibabypille? Laut Studie der Online-Arztpraxis Zava sind schätzungsweise rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland betroffen. zavamed.com/de (Zugriff am 24.02.2020)
- Segerer S, Keck C. Unverträglichkeit der Pille. gynäkologie + geburtshilfe 2019;24:32-4
- S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015-015. Stand: August 2019. Version: 1.0. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-015.html
- Aznar-Ramos et al. Incidence of side effects with contraceptive placebo. Am J Obstet Gynecol 1969;105(7):1144-9
- Goldzieher JW et al. A placebo-controlled double-blind crossover investigation of the side effects attributed to oral contraceptives. Fertil Steril 1971;22:609-23
- Grimes DA, Schulz KF. Nonspecific side effects of oral contraceptives: nocebo or noise? Contraception. 2011;83(1):5-9
Text: Dr. Hubertus Glaser