Dr. sc. hum. Henrik Jungaberle ist Direktor der MIND Foundation und einer von zwei CEOs von OVID Health Systems, die die OVID Clinic Berlin, eine Praxis für Augmentierte Psychotherapie, etabliert hat. Er forscht zu Psychedelika und deren evidenzbasiertem Einsatz, ist Unternehmer und Buchautor. 2016 hat er die MIND Foundation mitgegründet. Er ist auch beteiligt an der Psilocybin-Studie EPIsoDE, die das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI) gemeinsam mit der Charité Universitätsmedizin Berlin durchführt.
esanum: Henrik Jungaberle, Sie sind Direktor der MIND Foundation und Geschäftsführer von OVID Health Systems. Bei Ihnen dreht sich alles um psychedelische Erfahrungen. Können Sie sich und ihre Arbeit kurz vorstellen?
Henrik Jungaberle: Ja, gern. Wir haben die MIND Foundation vor 5 Jahren gegründet, als Organisation, die Wissenschaftskommunikation, Weiterbildung von Ärzten und Psychotherapeuten und Forschung betreibt. Und OVID Clinics ist dann vor zwei Jahren hinzugekommen als unser klinischer Rahmen, in dem wir Patienten behandeln. Wir sind vielleicht die erste Organisation weltweit, die ihre Arbeit in diesem Bereich ganz evidenzbasiert betrachtet. Wir sehen psychedelische Behandlungen genau im Schnittfeld zwischen Medizin und Psychotherapie. Und wir wollen diese Therapieform wirklich in die Mitte der deutschen und internationalen Medizin bringen.
esanum: Sie sind ja mit der MIND Foundation in den letzten Jahren sehr aktiv gewesen, und, so wie ich das beobachtet habe, auch sehr gewachsen. Alle zwei Jahre findet die international besetzte INSIGHT Conference statt, Sie bieten jede Menge Workshops und Seminare an und neuerdings auch eine Weiterbildung in Augmentierter Psychotherapie. Was ist das genau?
Henrik Jungaberle: Wir haben eine bestimmte Auffassung von psychedelischer Therapie, und die unterscheidet sich von der, die beispielsweise Stan Grof in den 1960er und -70er Jahren vertrat. Wir glauben, dass Psychedelische Therapie Psychotherapie ist, und zwar eine ganz spezielle Form der Psychotherapie. Hier kommt die ärztliche Perspektive mit der psychotherapeutischen zusammen. Das Pharmakon, das eingesetzt wird, ist sicher speziell, es erzeugt nämlich ganz besonders tiefe Erfahrungen bei Patienten, und das braucht einen Rahmen. Und der Rahmen, von dem wir denken, dass er seriös, für die Patienten gut und auch ethisch ist, heißt Psychotherapie. Was heißt Augmentation? Das kennen ja Psychiater, wenn bestimmte Medikamente augmentiert werden - meistens mit einer anderen Substanz. Bei uns heißt das, dass Psychotherapie und Psychedelika sich wechselseitig beeinflussen in ihrer Wirkung. Das ist vielleicht für jemand, der sonst nur organmedizinisch arbeitet, zunächst nicht so leicht vorstellbar, aber es lässt sich eigentlich leicht erklären: Die Wirkung von Psychedelika ist abhängig von der Umgebung und der inneren Haltung des Menschen, der dieses Psychedelikum einnimmt. Das heißt, in diese Richtung gibt es eine Augmentation: Die Wirkung der Substanz ist abhängig vom Set und Setting. Umgekehrt heißt es aber auch, dass die Wirkung der Therapie abhängig vom Psychedelikum ist. Dieses beeinflusst zum Beispiel die Beziehung zwischen Therapeut und Patient enorm. Es kann die Beziehung stärken oder den Beziehungsaufbau beschleunigen. Das ist Augmentation. Dazu gibt es auch Forschung. Zum Beispiel haben wir einen Fragebogen entwickelt, der im Rahmen der EPIsoDE- Studie zum Einsatz kommt.
esanum: Was schafft denn die augmentierte Psychotherapie, was andere Therapieformen nicht schaffen?
Henrik Jungaberle: Diese Therapieform erreicht zunächst mal Menschen, die die Hoffnung schon aufgegeben haben. Das sehen wir jetzt bei den mehr als 40 Patienten, die wir im Rahmen der EPIsoDE-Studie schon behandelt haben. Hier gibt es erstaunliche Verläufe. Menschen, die seit 20 Jahren in ihrer Depression eingefroren sind, sehen neue Lebenschancen. Die Symptomatik ändert sich bei einigen Patientinnen und Patienten dramatisch und sinkt auf der Hamilton Skala von beispielsweise 30 auf 3. Das sind Ergebnisse, die man sonst auch nicht nach Elektrokrampftherapie sieht. Das heißt, wir haben eine neue Möglichkeit, Patienten zu behandeln. Was kann die Augmentierte Psychotherapie noch? Sie kann wahrscheinlich bei Patienten, die Schwierigkeiten bei der Interaktion haben, eine Vertiefung der Verbundenheit mit anderen, zum Beispiel Teilnehmenden einer Gruppentherapie, herstellen, die sonst unerreichbar ist. Und drittens würde ich sagen, gibt es ganz spezifische Wirkfaktoren in der psychedelischen Therapie. Die Beziehungen, die Lebensphilosophie, die Werte von Patienten werden sich normalerweise nach so einer psychedelischen Behandlung noch einmal stark verändern oder in Frage gestellt werden. Oftmals sehr, sehr positiv. Menschen fragen sich, welche Ziele sie in den letzten Jahren oder Jahrzehnten verfolgt haben und ob das wirklich das ist, was sie wollen. Das ist das ganz besondere an der psychedelischen Therapie. Man kann das auch eine Veränderung der Patienten-Spiritualität nennen.
esanum: Wenn ich jetzt an unsere Ärztinnen und Ärzte denke - können Sie vielleicht kurz umreißen, wie die APT-Weiterbildung aufgebaut ist und wie diese anschließend auch in den normalen Praxisalltag integriert werden könnte?
Henrik Jungaberle: Die Weiterbildung hat ein ziemlich einzigartiges Format. Es handelt sich um eine zweijährige, intensive Weiterbildung mit 400 Stunden. Das erste Jahr ist ganz dem Thema Integration gewidmet. Das zweite Jahr ist dem Thema Anwendung von Psychedelika gewidmet. Warum haben wir das so gemacht? Integration bedeutet die Umwandlung von Erfahrungen in hilfreiche Verhaltensweisen. So, dass sie wirklich ihr Leben verändern und nicht nur eine gute Erfahrung machen - Letzteres wäre dann vielleicht „Drogen nehmen“. Aber es geht ja darum, aus dieser Erfahrung etwas zu machen.
Dann geht es in dieser ganzen Weiterbildung darum, diese Therapieform schon jetzt einsetzen zu können. Schon bevor die ersten psychedelischen Substanzen auf dem Pharma-Markt erhältlich sind. Das erwarten wir ja erst 2024 bis 2026. Das machen wir, indem wir den Ärzten und Psychotherapeuten beibringen, mit Ketamin psychedelische Behandlungen durchzuführen, aber auch mit Breathwork. Das ist etwas besonderes an dieser Behandlung. Sie ist nicht fixiert auf die Anwendung von Substanzen, sondern auf die Anwendung der psychedelischen Erfahrung in einem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Prozess.
Ungefähr zwei Drittel bis drei Viertel unserer Teilnehmer sind Ärzte, der Rest sind Psychotherapeuten. Was kann also ein Psychiater nach der Weiterbildung tun? Er kann in seiner Praxis mit Kollegen oder allein Ketamin anwenden oder einen psychotherapeutischen Prozess durch holotropes, immersives Atmen vertiefen. Und diese Vertiefung braucht einiges an Kenntnissen, denn die Patienten verhalten sich dann in der Therapie schon mal anders als in der psychoanalytischen Gesprächstherapie. Sie gehen auf eine innere Reise. Gerade beim immersiven Atmen ist es so, dass sie auch körperlich sehr intensive, sehr kathartische Erfahrungen haben. Damit lernt man umzugehen. Man lernt auch richtig zu screenen, welche Patienten überhaupt für eine solche Therapie geeignet sind. Manche Patienten sollte man nicht mit Breathwork oder Psychedelika behandeln, weil zum Beispiel die Gefahr besteht, dass sie psychotisch werden.
esanum: Was sind Kontraindikationen?
Henrik Jungaberle: Das sind manisch-depressive Patienten, bipolare Störungen, Patienten mit Psychose-Vorerfahrungen. Übrigens auch im ersten und zweiten Verwandtschaftsgrad. Im Moment schließen wir auch Patienten noch aus, die im zweiten Grad Psychosen in der Familie hatten. Das kann sich in der Zukunft noch ändern, aber Vorsicht ist sehr, sehr wichtig bei dieser Therapieform. Hauptsächlich ist es diese Gruppe. Manche Persönlichkeitsstörungen wären zur Zeit auch noch nicht geeignet, weil es da noch keine gute Evidenzlage gibt. Es gibt im Gegenteil viele Fallberichte, dass Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oftmals eine Verstärkung oder Akzentuierung erfahren, weil sie viel langfristiger begleitet werden müssen und Ärzte in einer normalen Praxis das oft gar nicht können.
esanum: Wie sieht’s aus mit CME-Punkten für die Weiterbildung?
Henrik Jungaberle: Ja, die ist voll mit CME-Punkten ausgestattet. Es gibt jedes Jahr mindestens 50, wahrscheinlich auch mehr, das heißt, man kann sein ganzes Jahreskontingent mit der Weiterbildung ableisten. Es ist auch so, dass ein ganz besonderer Schwerpunkt der Weiterbildung auf das Arbeiten in multiprofessionellen Teams ausgerichtet ist. Wir glauben, dass die Zukunft der psychedelischen Therapie darin besteht, dass verschiedene Berufsgruppen zusammenkommen und dann bessere Therapie entsteht. Und zwar nicht nur Ärzte und Psychotherapeuten, sondern auch Ärzte und Psychiatrie-Pflegekräfte oder besonders ausgebildete Medizinische Fachangestellte. Wir haben ja auch das Kostenproblem mit der psychedelischen Therapie. Dadurch, dass Patienten oft lange Zeit begleitet werden müssen, muss man sich überlegen, wie man das macht. In einer normalen psychiatrischen Praxis wird es kaum möglich sein, dass ein Patient einen ganzen Tag, sechs oder acht Stunden lang, vom Arzt betreut wird. Deshalb muss man lernen, wie das mit anderen Berufsgruppen zusammen geht. Wir haben auch den einen oder anderen Anästhesisten, und vor allem auch Allgemeinärzte interessieren sich sehr für die APT-Weiterbildung. Das könnte auch die Zukunft sein im Gesundheitssystem, wenn psychedelische Therapien sich wirklich als so wirksam erweisen wie es jetzt aussieht. Dann werden das möglicherweise nicht nur Psychiater machen, sondern eventuell auch Hausärzte, die sich mit einem psychologischen Psychotherapeuten zusammenschließen. Unser Ziel ist es, mit der APT-Weiterbildung im deutschen Gesundheitssystem eine Zusatzbezeichnung aufzubauen, zum Beispiel für Psychedelisch-augmentierte Therapie, so dass auch Allgemeinmediziner oder Vertreter anderer Ärztegruppen in der Lage wären, so eine Therapieform, gegebenenfalls mit Kollegen gemeinsam, durchzuführen.
esanum: Was erwarten Sie tendenziell für die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen? Könnte die augmentierte Psychotherapie irgendwann Kassenleistung werden?
Henrik Jungaberle: Da sind wir sicher, dass es Kassenleistung werden kann. Das wird aber sicher noch einige Jahre dauern. Unser Ziel ist es, diese Form von Psychotherapie in die Regelversorgung aufzunehmen. Was muss dazu passieren? Dazu müssen Studien wie die EPIsoDE-Studie erfolgreich durchgeführt werden, dann muss es noch eine Phase-3-Studie geben und nach der Phase-3-Studie muss das passieren, was jetzt auch für Esketamin passiert ist, nämlich eine sogenannte HTA-Studie (Health Technology Assessment), die die Regelbehandlung, das first-line Treatment mit der neuen Behandlung vergleicht, und da müssen wir dann besser abschneiden. Wir sind nach unseren Berechnungen sehr optimistisch, dass es im Bereich Depressionen, aber auch bei anderen Indikationen möglich ist, eine first-line Behandlung zu werden. Und dann sind wir in der gesetzlichen Krankenkasse. Aber es gibt ja vor der gesetzlichen noch eine Menge Möglichkeiten, zum Beispiel mit den privaten Krankenkassen Behandlungsverträge abzuschließen oder auch für Selbstzahler.
esanum: Das heißt, Sie haben da auch eine Menge an bürokratischer Arbeit zu bewältigen, neben der therapeutischen Arbeit und der Forschungsarbeit.
Henrik Jungaberle: Das ist eine gewaltige Untertreibung. Es ist wirklich unglaublich viel Arbeit mit Verbänden, strategisch, bürokratisch. Die Medikamentenentwicklung ist ja ein Pharma-Geschäft und Pharma ist hoch aufwändig, jeder einzelne Schritt muss GMP-zertifiziert (Good Manufacturing Practice) werden, ist hoch strukturiert und sehr teuer.
esanum: Nochmal kurz zur EPIsoDE-Studie: dort wird ja Psilocybin getestet.
Henrik Jungaberle: Ja genau, das sollten wir noch erwähnen für APT. Im zweiten Jahr werden wir nicht nur Ketamin anwenden lernen, sondern wir werden auch die Anwendung von Psilocybin lehren, schon dem vorauseilend, was kommt. Wir stellen gerade einen Antrag beim BfArM, um in diesem Rahmen dann auch eine Selbsterfahrung mit Psilocybin für Ärzte möglich zu machen. Das ist ein Schritt im Kennenlernen dieser Substanz. Wir glauben, dass wie bei jeder Psychotherapie Selbsterfahrung dazu gehört. Das aber natürlich legal, wie alles, was wir machen. Es gibt viele Weiterbildungen, die im Untergrund laufen, aber wir finden das unethisch, und es bringt nichts. Es führt auch nicht dazu, dass diese Therapien in der Medizin ankommen. Was wir wirklich brauchen - aus meiner Sicht - ist, dass die Ärzte und Therapeuten sich mit dieser Substanz vertraut machen, dass Mythen abgebaut werden und dass man lernt, mit den Besonderheiten dieser Substanz umzugehen und nicht alles mit New-Age-Philosophien beschreibt. Denn nicht jedesmal, wenn ein Patient das Gefühl hat, er werde neu geboren, wird er auch neu geboren. Es ist eine subjektive Erfahrung. Dadurch müssen wir nicht alle Anhänger der Wiedergeburtslehre werden.
esanum: Das wäre ja auch problematisch, die Bewegung der Aneignung von kulturellen Praktiken immer wieder durchzuführen.
Henrik Jungaberle: Ja eben, das ist es. Aber es gibt sehr viele Menschen, die glauben, dass es so eine Art von Therapie ist: eine esoterische, spirituelle oder religiöse Therapie. Natürlich spielt Patienten-Spiritualität eine Rolle, aber man muss auch verstehen, was das ist. Also Lebensphilosophie, Neuorientierung, neues Verständnis der Welt, vielleicht der Verbundenheit mit der Natur und mit dem Kosmos. Das sind alles Dinge, die auch philosophisch beschreibbar sind.
esanum: Das führt mich zu meiner nächsten Frage, nämlich der nach Widerständen. Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass Ihnen innerhalb der Ärzteschaft mit Ablehnung begegnet wird?
Henrik Jungaberle: Also dadurch, dass wir eine evidenzbasierte, an Wissenschaft orientierte Organisation sind, haben wir sehr wenig Widerstand erlebt. Wenig heißt, dass es bei der Eröffnung der OVID Praxis die Stimme einer Klinikleiterin in Berlin gab, die die Behandlungsform gar nicht ernst genommen hat und glaubte, mit den Stereotypen der 1970er Jahre hantieren zu müssen: "Was machen die denn da, ist das ein Place to be high?", war die Frage. Interessanterweise erleben wir sonst fast keinen Widerstand. Es kann natürlich sein, dass in der Ärzteschaft die psychedelisch unterstützte Therapie noch so unbekannt ist, dass wir vielleicht erstens nicht ernst genommen werden und zweitens das Thema bei einer großen Zahl von Ärzten noch nicht angekommen ist. Aber dafür machen wir ja mit Prof. Gerhard Gründer zusammen auch die EPIsoDE-Studie. Übrigens gibt es jetzt auch den ersten Text auf deutsch dazu im "Nervenarzt", der heißt "Sind Psychedelika schnell wirksame Antidepressiva?". Wir haben ja bisher sehr viel auf englisch publiziert, und das ist einem Teil der deutschen Ärzteschaft nicht so zugänglich. Und die Antwort lautet ja, Psychedelika sind schnell wirksame Antidepressiva, und jetzt versuchen wir aber, daraus eine Behandlung zu machen. Denn was nützt es einem depressiven Menschen, wenn er vielleicht mal eine Woche symptomfrei ist und dann wieder abrutscht. Also bei der Weiterbildung und der Therapie geht es viel darum, wie man diese Wirkung stabilisiert, so dass sie ein halbes Jahr oder ein Jahr oder sogar länger andauert. Wir wollen damit eine den Krankheitsverlauf verändernde Therapie erschaffen. Das ist unser Ziel. Und das versuchen wir mit Wissenschaft und mit guter Weiterbildung.