Anfang Dezember veröffentlicht die OECD eine Bilanz der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie für die Staaten der Europäischen Union. Bis Ende Oktober 2022 sind offiziell 1,1 Millionen Todesfälle gemeldet. Die Lebenserwartung im EU-Raum ist bis Ende 2021 um mehr als ein Jahr gesunken, es ist der größte Rückgang seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Alle Gesundheitssysteme konzentrierten ihre Kapazitäten auf die Bewältigung von Corona-Infektionen, die Zahl elektiver Eingriffe ging drastisch – im EU-Schnitt um 14 Prozent – zurück. Etwas weniger in Ländern mit vergleichsweise gut ausgestatteten Krankenhaus- und Intensivkapazitäten wie Deutschland, der Schweiz und Österreich.
In allen EU-Ländern stiegen die Gesundheitsausgaben überproportional, am stärksten in Deutschland mit real fünf Prozent pro Einwohner. Zwischen 2019 und 2021 stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben in Deutschland von 11,7 auf 12,8 Prozent, ein Spitzenwert in Europa.
Immer offenkundiger wurden auch die Langzeitfolgen der Pandemie. Zum einen Long-Covid, ein hochdifferenziertes, sehr unterschiedlich ausgeprägtes Krankheitsbild, das bislang kaum erforscht ist und für das es noch keine gesicherten Therapien gibt. Betroffen sind auch Menschen, die in der Akutphase der Infektion nur milde Krankheitssymptome aufweisen. Die körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen sind teils massiv und lange anhaltend. Long-Covid dürfte damit zu einer langfristigen Herausforderung für behandelnde Ärzte, Wissenschaftler und das Versorgungssystem werden.
Offensichtlich wurden auch die Folgen für die jüngere Generation, die durch Lockdowns, Kita- und Schulschließungen einen besonders bedeutenden Beitrag zur Solidarität mit der älteren und vulnerablen Generation geleistet haben. Die OECD berichtet von einer Verdoppelung des Anteils von jungen Menschen mit psychischen Leiden wie Depressionen. Befragungen im Frühjahr 2021 und 2022 zeigten, dass die Hälfte der Betroffenen angab, dass ihr Bedarf an psychosozialer Versorgung nicht erfüllt worden sei.
Eine weitere Wirkung der Lockdowns: Bewegungsmangel, schlechtere Ernährung, vermehrter Medienkonsum – und steigende Anteile von Kindern mit Übergewicht und Fettleibigkeit.
Im November greift der Deutsche Ethikrat die besondere Belastung der jüngeren Generation durch die Pandemie auf und stellt fest: "Die Gesellschaft ist Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vieles schuldig geblieben." Dass Bildungsorte auch soziale Lebensorte sind, sei oft übersehen worden. Und: "Zum Alltag in der Pandemie gehörten auch Konflikte in der Familie bis hin zu Gewalterfahrungen (emotionale und körperliche Misshandlung, sexualisierte Gewalt), die junge Menschen besonders in den Zeiten massiver Ausgangsbeschränkungen oft in ausweglose Situationen brachten. Die jüngere Generation erlebte Erwachsene und Ältere zum Teil als ängstlich, gestresst und überfordert oder sogar selbstbezogen."
Tatsächlich, so stellt der Ethikrat fest, haben junge Menschen "die ihnen abverlangte Solidarität im Interesse alter, kranker Menschen in Zeiten der akuten Pandemielage bereitwillig und bewusst gezeigt". In Zukunft, so fordert der Ethikrat, "ist umso mehr darauf zu achten, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht noch einmal derart einseitig in ihrer Lebensentfaltung beschränkt werden."
Das Mindestmaß an Solidarität, das ältere und vulnerable Gruppen der jungen Generation schulden, wäre, vorhandene Möglichkeiten des Selbstschutzes zu nutzen: ein ausreichender Impfschutz. Der Status-quo laut BMG-Dashboard vom 22. Dezember offenbart eine gravierende Solidaritätslücke: 38 Prozent der Menschen über 60 haben zwei Auffrischungsimpfungen, zehn Prozent sind überhaupt nicht geimpft. Bei den 18- bis 59-Jährigen haben 6,4 Prozent zwei Auffrischungsimpfungen, mehr als ein Viertel ist nicht geimpft. Trotz mehrerer Aufklärungskampagnen des Bundesgesundheitsministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Eigenverantwortung und Solidarität sind lückenhaft geblieben.
Mit einer allgemeinen Impfpflicht hätte diese Solidaritätslücke mit Sicherheit verringert werden können. Die Ampelkoalition wollte das, sah aber auch die Brisanz der Abwägung zwischen den Zielen des Gesundheitsschutzes und den Freiheitsrechten der Bürger, die insbesondere von der FDP betont wurden. So gab es keine Einigung auf einen von den Fraktionen konsentierten Regierungsentwurf, sondern fünf verschiedene Gesetzesinitiativen zwischen einer Impfpflicht für alle Erwachsenen und einer vollständigen Ablehnung. Das Ergebnis war eine Blamage für die Koalition und ein Desaster für die Vorsorge: Keiner der Gesetzentwürfe fand eine parlamentarische Mehrheit, die Lösung war eine leere Menge.
Allerdings wurde es – vor dem Hintergrund der zwar sehr infektiösen, aber weitaus weniger gefährlichen Entwicklung von Omikron-Varianten – immer schwieriger, eine Impfpflicht unter dem Aspekt des Fremdnutzens zu begründen. Andererseits blieb die Sorge um eine Überlastung der Krankenhaus- und vor allem Intensivkapazitäten, zumal diese als Folge einer Flucht vor allem der hochbelasteten Pflegeberufe schrumpften.
Entsprechend einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts verabschiedete der Bundestag Anfang November das Triage-Gesetz. Es beschreibt den Triage-Prozess und die Maßstäbe für die Triage-Entscheidung: ausschließliches Kriterium ist dabei die akute Überlebenswahrscheinlichkeit für die Zuteilung begrenzter Behandlungsressourcen. Komorbiditäten, Alter oder Behinderung müssen außer Betracht bleiben. Auch eine Ex-post-Triage lehnte der Bundestag ab – gegen die Bedenken intensivmedizinischer Experten, die darauf hinwiesen, dass mangelnde Flexibilität insgesamt dazu führe, dass weniger Menschen eine Genesungs- und Überlebenschance haben.
Es ist ein Tag, der die Welt in Europa grundlegend verändert und lange geglaubte Gewissheiten zunichte macht: am 24. Februar überfällt Russland im Rahmen einer "militärischen Spezialoperation", so das offizielle Wording des Kreml, die Ukraine. Das Ziel: das "faschistische Regime" zu stürzen und zu liquidieren und die gesamte Ukraine heim ins russische Imperium zu holen.
Doch die Prämissen Putins erweisen sich – ebenso wie manche Einschätzungen im Westen – als grundlegend falsch: die Ukraine hat sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer westlich orientierten demokratischen Gesellschaft mit einer historisch eigenen Kultur der Weltoffenheit entwickelt und zeigt einen unerwarteten Willen zur Selbstbehauptung.
Der Überfall auf die Ukraine wird zu einem Stellvertreter-Krieg zwischen einem autokratischen und an keine Regeln des Rechtsstaates und Völkerrechts gebundenen System und den freiheitlichen, demokratischen und dem Rechtsstaat verpflichteten Gesellschaften. Wenige Tage nach dem Überfall spricht Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag von einer "Zeitenwende".
Die Auswirkungen für Deutschland, seine Art zu wirtschaften und seine Zukunft zu gestalten, werden massiv sein und sind in ihrer Tragweite auch am Ende des Jahres 2022 noch nicht zu übersehen:
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine offenbart aber auch: die Solidarität der Menschen in Europa und umfassende Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaften. Diesmal sind es die Polen, die mit schier unglaublichem Engagement die aus der Ukraine flüchtenden Frauen und Kinder mit offenen Armen aufnehmen. Aber schon binnen weniger Wochen nach Kriegsausbruch erreichen überfüllte Sonderzüge aus dem Südosten Polens auch die deutsche Hauptstadt.
Die ukrainischen Flüchtlinge erhalten schnell einen Sonderstatus: sie dürfen arbeiten und haben Anspruch auf Leistung der Krankenversicherung. Den Ärzten stellt sich eine neue Herausforderung: Der Umgang und die Bewältigung vieler schwer traumatisierter Menschen.
Erleichterung bei vielen Ärzten: Am 24. Juni beschließt der Bundestag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linksfraktion die Streichung des Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch. Das sogenannte "Werbeverbot" für Schwangerschaftsabbrüche hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass Ärzte, die Frauen über die Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs informierten, wiederholt unter Berufung auf die Norm des Paragraf 219a von den Strafverfolgungsbehörden belangt und auch rechtskräftig verurteilt wurden.
Kostenwirksame Gesetze der Vorgängerregierung und der Plan des Bundesfinanzministers, den Corona-bedingt erhöhten Zuschuss des Bundes für den Gesundheitsfonds zu kürzen, lassen für 2023 ein Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung erwarten. Im März legt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erste Eckpunkte für eine Notoperation vor. Darin enthalten: eine Senkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel von 19 auf 7 Prozent – eine Entlastung für die Kassen von vier bis fünf Milliarden Euro. Das ist mit dem Bundesfinanzminister nicht abgestimmt, der Plan verschwindet im Papierkorb.
Neuer Anlauf im Herbst. Ende Oktober beschließt der Bundestag das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Die Regelungen: Über den üblichen Bundeszuschuss von 16,5 Milliarden Euro hinaus zahlt der Bund zwei Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds, ferner einen unverzinslichen Kredit von einer Milliarde Euro. Die Kassen müssen einen Teil ihrer Finanzreserven auflösen. Die Versicherten müssen mit einer Steigerung ihres Zusatzbeitrags um 0,3 Prozent rechnen.
Auch die Leistungserbringer müssen Opfer bringen: Für Ärzte entfällt die erst kürzlich eingeführte Neupatientenregelung. Ein Teil der Verluste wird allerdings in der Folge im Rahmen der Honorarverhandlungen wieder kompensiert. Am härtesten betroffen ist die forschende pharmazeutische Industrie mit einer fünfprozentigen Solidarabgabe für alle patentgeschützten Arzneimittel und neue Erstattungsregeln für Orphan Drugs und freie Kombinationen neuer Wirkstoffe, vor allem in der Onkologie.
Nachhaltig ist diese Finanzoperation nicht. Spätestens im übernächsten Jahr dürften neue Einschnitte folgen – auch vor dem Hintergrund der für das kommende Jahr erwarteten Rezession.
Anfang Dezember legen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und die Expertenkommission der Bundesregierung Eckpunkte für die große Krankenhausreform vor. Die Kernelemente: Die Definition von Versorgungs-Levels und die Modifikation des DRG-System, das durch Level-spezifische Vorhaltepauschalen ergänzt wird.
Die Versorgungsstufen:
Ferner hat die Expertenkommission 128 Leistungsgruppen definiert und diese mit Mindestvorgaben für Personal- und Technikausstattung verknüpft. Diese Leistungsgruppen werden dann den verschiedenen Versorgungsstufen zugeordnet.
Die Kommission empfiehlt ferner, dass die neuen Vorhaltebudgets im Regelfall einen Anteil von 40 Prozent an den Gesamtvergütungen der Kliniken ausmachen sollen. Leidglich bei Intensiv- und Notfallmedizin sowie Geburtshilfe und Neonatologie sollen Vorhaltepauschalen 60 Prozent der Kosten finanzieren. Eine Sonderregelung ist für Unikliniken vorgesehen.
Ähnlich wie bei Einführung der DRGs ist eine Konvergenzphase von fünf Jahren geplant. Die Reform soll kostenneutral sein. Erwartet wird aufgrund der erheblichen Konzentration der Krankenhausstrukturen ein Entlastungseffekt für Ärzte und Pflege – auch aufgrund eines Schubs für die Ambulantisierung.
Das Gesetzgebungsverfahren 2023 dürfte schwierig werden: Die spannende Frage ist, inwieweit die zentralen strukturellen Vorgaben von den Ländern als Eingriff in ihre planerischen Hoheitsrechte verstanden werden – das wird zu heftigen Auseinandersetzungen im Grundsatz wie auch im Detail führen.
"Wir haben es mit der Ökonomisierung auch bei Arzneimitteln übertrieben" – vor dem Hintergrund akuter Engpässe bei der Versorgung mit kindgerechten Zubereitungen von Paracetamol und Ibuprofen kündigt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am 20. Dezember eine Revision des Festbetragssystems für Arzneimittel an. Für Kinderarzneimittel werden Festbeträge und Preise um 50 Prozent erhöht. Ähnliche Regelungen sollen Antibiotika und Onkologika, bei denen in der Vergangenheit immer wieder Lieferengpässe registriert wurden, geschaffen werden.
Ferner wird das Rabattsystem korrigiert: Bei Ausschreibungen müssen Diversität und Stabilität der Lieferketten und europäische Anbieter zwingend berücksichtigt werden. Der Hintergrund: Aufgrund der Fokussierung auf Kostenminimierung hat sich die Produktion vieler essentieller Wirkstoffe auf wenige Hersteller in China und Indien konzentriert – mit wachsendem Risiko für Lieferengpässe.
Gesundheitsökonomen wie Professor Wolfgang Greiner von der Uni Bielefeld halten die Initiative von Lauterbach für überfällig. Man müsse dabei aber auch darauf achten, dass die neue deutsche Preispolitik nicht zu Lasten ärmerer Nachbarländer gehe. Die Ökonomen halten eine Langzeitstrategie für erforderlich und warnen vor ähnlichen Fehlentwicklungen wie bei Schutzmasken.
Trotz desaströser und teurer Erfahrungen Anfang 2020 bestellen deutsche Behörden Schutzmasken seit geraumer Zeit wieder ausschließlich bei chinesischen Herstellern – weil die Preise die niedrigsten sind.
Nichts gelernt.