Viele psychiatrische Erkrankungen sind Folgen eines traumatischen Erlebnisses. Das kann das Miterleben von Naturkatastrophen oder Kriegsgeschehen sein, der Verlust eines nahestehenden Menschen oder schwerwiegende Erlebnisse in Kindheit oder Jugend. Sind die Betroffenen nicht in der Lage, das Erlebte zu verarbeiten, führt das zu einer dauerhaften Belastung. Diese äußert sich oft in Angstzuständen oder Schlafstörungen, teils auch in körperlichen Schmerzen. Im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung lernen die Patienten, dysfunktionale Verhaltens- und Denkmuster zu verändern und entwickeln Bewältigungsstrategien. Dr. med. Richard Musil behandelt seine Patienten zusätzlich mit Akupunktur.
Die NADA-Ohrakupunktur kommt ursprünglich aus dem suchttherapeutischen Kontext. Die Abkürzung steht für "National Acupuncture Detoxification Association", eine gemeinnützige Organisation, die 1985 in New York gegründet wurde und bis heute Suchterkrankte beim Entzug unterstützt. "Inzwischen hat sich das Anwendungsgebiet jedoch erweitert. Auch bei akuten Belastungsreaktionen oder der posttraumatischen Belastungsstörung wird diese Form der Akupunktur mittlerweile sehr häufig in die Behandlung integriert. Dafür werden Nadeln an drei bis fünf bestimmten Punkten an beiden Ohren gesetzt", erklärt Dr. Musil.
In den meisten Fällen ist die Akupunktur Teil eines multimodalen Therapiekonzepts. Wie intensiv sie eingesetzt wird, richtet sich nach dem Behandlungsziel und den Möglichkeiten des Patienten. "Es gibt aber auch Beispiele, in denen die Akupunktur sozusagen 'isoliert' eingesetzt wird. So haben NADA-Teams nach dem Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 Einsatzkräfte behandelt. Sie bekamen die Nadeln gesetzt, ohne dass sie das Erlebte in Worte fassen mussten und erlebten die Behandlung dennoch positiv, fühlten sich wach und entspannt, berichtet Musil.
Wissenschaftlich lässt sich die Wirkung unter anderem durch den stimulierenden Reiz der Nadeln erklären, der im Gehirn eine vermehrte Ausschüttung schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Substanzen auslöst. Dazu gehören auch Serotonin und Endorphin. "Dadurch nehmen Beschwerden wie innere Unruhe, Ein- und Durchschlafschwierigkeiten ab. Die Patienten fühlen sich entspannt und ausgeruht; sie sehen sich den Anforderungen des Lebens wieder besser gewachsen. Ein Teil der Betroffenen entwickelt infolge der traumatischen Erfahrungen auch chronische Schmerzen. Auch diese nehmen ab oder verschwinden ganz", weiß Musil aus der Praxis.
Als Leiter der Arbeitsgruppe "Akupunktur in der Psychiatrie" an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums München erforscht er seit geraumer Zeit den Einsatz und die Chancen der Akupunktur für psychiatrische und psychosomatische Patienten. Nach aktuellem Kenntnisstand bewertet er sie als gutes ergänzendes Verfahren zur Psychotherapie und Psychopharmakotherapie.
Quelle: Medizinische Woche