Eine Gruppe des Kompetenznetzes Public Health Covid-19 hat ein Dossier veröffentlicht, das die Rolle der Kinder sowie deren Entwicklungsbedürfnisse in den Blick nimmt. Unter der Leitung des pädiatrischen Epidemiologen Dr. Jon Genuneit von der Universitätsmedizin Leipzig hat das Forscherteam aktuelle Studien zusammengetragen und Handlungsempfehlungen abgeleitet.
"Der Zeitraum ist noch zu kurz, um vor dem Hintergrund der sehr niedrigen Anzahl der Neuinfektionen in Sachsen abzuschätzen, welchen Effekt die Öffnungen auf das Infektionsgeschehen bei uns haben. Die Entscheidung zur Öffnung der Kitas und Grundschulen hielt und halte ich für richtig. Wir haben in unserer Handreichung als Bewertungsgrundlage die wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Übertragung der Infektion auf und von Kindern, speziell im Kita-Alter, zusammengefasst: Kinder können sich infizieren; bei der Mehrheit der Kinder verläuft die Infektion entweder asymptomatisch oder mild. Kinder können SARS-CoV-2 auch übertragen. Allerdings weist die aktuelle Studienlage in der Gesamtschau darauf hin, dass Kinder SARS-CoV-2 mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf Erwachsene übertragen, als Erwachsene dies umgekehrt tun. Die Rolle asymptomatischer Kinder in der Übertragung konnte bisher nicht geklärt werden. Aktuell sind uns auch in der internationalen Literatur keine Berichte von Ausbrüchen durch asymptomatische Kinder bekannt."
"Das bezieht sich nicht auf saisonale Charakteristika der Infektion, sondern benennt nur einen Zeitraum. Einen Wiederanstieg der Infektionszahlen halte ich für sehr wahrscheinlich, da die Infektion nicht ausgerottet ist. Nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung wird dann immun sein. Zudem wird in den kalten Monaten mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbracht. Die Infektionszahlen müssen in einem für die Patientenversorgung und Gesundheitsämter beherrschbaren Rahmen gehalten werden. Die Frage bleibt, welche Maßnahmen bei einem Wiederanstieg erneut eingesetzt werden sollen. Modelle zeigen, dass Kita- und Schulschließungen eher einen untergeordneten Einfluss auf die Sterberate und Übertragung von SARS-CoV-2 haben. Epidemiologische Daten aus Ländern, die Kitas und Schulen offenließen wie Südkorea, Singapur, Schweden weisen auf keinen oder nur einen geringen Einfluss dieser Altersgruppen bei der Ausbreitung von SARS-CoV-2 hin."
"Kindergartenkinder sind in besonders engem Kontakt beim Spielen, und das Einhalten von Hygienemaßnahmen ist schwer umzusetzen. Eine Kind-Kind-Übertragung oder eine Kind-Betreuungspersonal-Übertragung kann also nicht ausgeschlossen werden. Ich halte die weitgehende Gruppenisolierung von Kita-Gruppen und Grundschulklassen für eine pragmatische Lösung, um Kontakte soweit wie möglich zu reduzieren. Ein Regelbetrieb in der Kita könnte mit einem Ansatz der sogenannten 'sorgenden Gemeinschaft' kombiniert werden. Dies würde bedeuten, dass sich Eltern, deren Kinder in Kitas als Gruppe (Cluster) betreut werden, zusammenschließen. Regelmäßige Sozialkontakte mit Abstand zwischen Erwachsenen sollten Kinder dann nur innerhalb dieser Gruppe pflegen, sich aber außerhalb der Gruppe in Kontakten stark beschränken. Die in anderen Gesellschaftsbereichen geltenden Empfehlungen wie Händewaschen und Lüften sollten, soweit möglich, auch in Schulen und Kitas umgesetzt werden. Bei ausreichenden Ressourcen sollte eine regelmäßige Reihentestung von Betreuungspersonal in Erwägung gezogen werden, um das Risiko des Eintrags der Infektion in die Gruppe durch die erwachsene Betreuungsperson zu minimieren. Bei Auftreten einer SARS-CoV-2 Infektion in einer Kita gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass anders als in anderen Bereichen verfahren werden sollte. Das heißt: isolieren der infizierten Person, gleich ob Betreuungspersonal oder Kind, testen der Kontaktpersonen auf vorliegende Infektion und Isolierung der Personen mit positivem Befund."
"Als Kitas und Schulen zu Beginn der Pandemie geschlossen wurden, habe ich die gesellschaftliche Diskussion dahingehend wahrgenommen, dass dies zum Schutz der erwachsenen Bevölkerung und unter Mehrbelastung der Eltern geschehe – aus Sicht der Kinder wird eher selten argumentiert. Wie oben angedeutet: Es gibt derzeit keinen wissenschaftlich belegten Grund, Kinder bei reinem Infektionsverdacht zu isolieren, nur weil sie Hygienemaßnahmen lediglich bedingt einhalten können. Bei aktuell niedrigen Infektionszahlen und mit der Disziplin von Erwachsenen beim Einhalten von Hygienemaßnahmen wie beispielsweise Händewaschen, Abstand halten und Kontaktreduktion können wir es uns meiner Ansicht nach als Gesellschaft leisten, auf die Bedürfnisse der Kinder etwas mehr Rücksicht zu nehmen und diese in der Güterabwägung höher zu bewerten.
Der Zusammenhang zwischen der Dauer des Besuchs einer Kindertagesstätte und einem positiven Entwicklungsverlauf der Kinder ist wissenschaftlich belegt. Die Interaktion mit Gleichaltrigen spielt eine entscheidende Rolle bei der sozialen Entwicklung. Zudem sind gerade im Laufe der frühen Entwicklung die Risiken für bleibende psychosoziale Belastungen, seelische Erkrankungen und verpasste Bildungschancen besonders hoch. Vor der erneuten Schließung von Kitas sollten die durch eine Schließung verursachten Konsequenzen für die Kinder und ihre Entwicklung wohlüberlegt gegen die Auswirkung der Kitaschließung auf das Infektionsgeschehen abgewogen werden, basierend auf dann vorliegenden Erkenntnissen und Modellrechnungen."