Kopfloses Verhalten beim Kopfballspiel

Das Ausüben von Kopfbällen birgt gesundheitliche Gefahren. Nun hat der DFB endlich – genauer gesagt am Bundesjugendtag – altersgemäße Richtlinien für die Ausübung von Kopfbällen durch Kinder und Jugendliche angepasst. Was sagt die Wissenschaft?

*verfasst am 12.12.2022, aktualisiert am 17.03.2023

Zusammenhang zwischen Kopftraumata im Fußballsport und neurodegenerativen Erkrankungen? 

Bisher wurden empirische Daten zu den Langzeitauswirkungen von Schlägen auf den Kopf nur im Zusammenhang mit dem Boxen erhoben und analysiert. Im Boxsport sind die Auswirkungen von Schlägen auf den Kopf durch das traurige Beispiel des an Morbus Parkinson erkrankten Boxchampion Ali bereits bekannt. Muhammad Ali selbst soll folgende hypothetische Frage in den Raum gestellt haben: "Wenn Ihr 3000 Schläge an die Birne bekommen hättet, so wie ich, wie würde es euch dann gehen?". 

Verschiedene kleinere Studien und Fallberichte deuten darauf hin, dass Sportarten mit wiederholtem Kopftrauma ein langfristiges Risiko für neurodegenerative Erkrankungen mit sich bringen können. Diese können nicht nur bei ehemaligen Boxern auftreten, sondern auch bei Sportarten mit wiederholtem, leichtem Kopftrauma, wie es der Fußballsport ist. Zu neurodegenerativen Auswirkungen hiervon gehören möglicherweise ein erhöhtes Risiko für eine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen und Demenz, die Parkinson-Krankheit sowie die amyotrophe Lateralsklerose. Diese Hypothese stellte bereits die Forschungsgruppe um Neil Pearce 2014 auf. Sie betonten in ihrem Artikel mit dem Titel "Head trauma in sport and neurodegenerative disease: an issue whose time has come?" die Wichtigkeit der Durchführung von umfangreichen Forschungsanstrengungen zu dieser Thematik. Die zugrunde liegenden Mechanismen, die vom Kopftrauma bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen reichen können, müssten zuerst verstanden werden. Zudem seien noch epidemiologische Studien zur Bewertung der langfristigen Folgen nötig.4

Nachtrag der Redaktion:

Eine Mitte März 2023 erschienene Studie (Neurodegenerative disease among male elite football (soccer) players in Sweden; DOI: https://doi.org/10.1016/S2468-2667(23)00027-0) untersuchte neurologische Erkrankungen unter männlichen Leistungsfußballern in Schweden. Bei dieser Kohortenuntersuchung konnte belegt werden, dass das Risiko, eine neurodegenerative Erkrankung zu erleiden, unter Fußballern höher ist als bei der Allgemeinbevölkerung. Darunter fallen zum Beispiel Alzheimer sowie andere Formen der Demenz. Andere neurodegenerative Erkrankungen scheinen nicht signifikant häufiger unter Profifußballern aufzutreten, ebenso haben Torhüter im Gegensatz zu Feldspielern kein erhöhtes Risiko.

Welche biomechanischen Merkmale hat die Kopfballaktion?

Erst letzten Sommer wurde ein systematisches Review mit Meta-Analyse zur Ausübung von Kopfbällen veröffentlicht. Die Überprüfung wurde gemäß den PRISMA-Leitlinien durchgeführt. Es erfolgte eine Durchsicht elektronischer Datenbanken (u.a. MEDLINE und SPORTDiscus) bis einschließlich Juli 2020. In die Analyse flossen Studien ein, die über eine unabhängig quantifizierte Überbelastung des Kopfes, biomechanische Merkmale des Kopfballs oder den Zusammenhang zwischen Kopfball und kognitiven Funktionen berichteten. Es konnten vor allem folgende drei biomechanischen Variablen während der Kopfballaktion beobachtet werden:

Gibt es kurzfristig negative Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit?

Die Forschungsgruppe kam in ihrem Review zu folgenden Ergebnissen: Die Anzahl der Kopfbälle pro Spieler und Spiel bewegte sich auf einem Spektrum zwischen 1 und 9. Die Kopfballhäufigkeit während eines Trainingsdurchlaufes variierte abhängig vom Format. Die durchschnittliche Kopfbeschleunigung reichte von etwa 4-50 g. Bei neun von 12 Studien konnten keine negativen Auswirkungen auf die kognitiven Testleistungen beobachtet werden. Bei drei Studien beschränkten sich negative Auswirkungen nach dem Kopfballspiel auf Reaktionszeit und Gedächtnisfunktion. Die Forschungsgruppe kam zu dem Schluss, dass Kopfbälle sich kurzfristig nicht negativ auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken würden. Sie betonte jedoch in ihrer Publikation, dass es sich nur um eine vorläufige Schlussfolgerung handeln würde. Die Vorläufigkeit sei methodischer Mängel in der vorhandenen Evidenzbasis geschuldet.7

Kopfbälle haben neuropsychologische Folgen

Im Jahr 2018 wurde eine wissenschaftliche Arbeit zur langfristigen Auswirkung von Kopfbällen auf die neuropsychologische Funktion bei 311 erwachsenen Amateurfußballern veröffentlicht. Die Datenerfassung erfolgte mit Hilfe zweier Fragebögen. Durch den Ausgangsfragebogen (HeadCount-12m). wurde die Kopfhaltung während der letzten 12 Monate (Langzeit-Kopfhaltung, LTH) ermittelt. Der Online-Fragebogen (HeadCount-2w) erfolgte im 3-Monatstakt und untersuchte die Kopfhaltung während der letzten 2 Wochen (aktuelle Kopfhaltung, RH). Zur Bewertung der neuropsychologischen Funktion wurde Cogstate (Batterie von sechs neuropsychologischen Tests) durchgeführt. Die Rolle von anerkannten Gehirnerschütterungen wurde hierbei berücksichtigt. Die Teilnehmer köpften den Ball im Median 611 Mal pro Jahr (Mittelwert = 1.384,03) und 9,50 Mal pro 2 Wochen (Mittelwert = 34,17). Das Durchschnittsalter lag bei 26 Jahren. Hohe RH-Werte standen in signifikantem Zusammenhang mit einer geringeren Leistung bei einer Aufgabe zur psychomotorischen Geschwindigkeit. Hohe LTH-Werte hingegen waren signifikant mit einer schlechteren Leistung bei Aufgaben zum verbalen Lernen und zum verbalen Gedächtnis assoziiert. Die Forschungsgruppe schloss hieraus, dass hohe RH- und LTH-Werte mit einer schlechteren neuropsychologischen Funktion verbunden waren. Sie nahmen an, dass sich die klinischen Manifestationen nach wiederholter Kopfball-Exposition langfristig noch weiter verändern könnten.8

Bundestag äußert sich zu gesundheitlichen Auswirkungen des Kopfballspiels

Der Bundestag forderte dieses Jahr nach Veröffentlichung verschiedener wissenschaftlicher Arbeiten zu den Auswirkungen des Kopfballspiels ein "Kopfballverbot im Fußball". Hierzu wurden die Ergebnisse der britischen Wohltätigkeitsorganisation Alzheimer’s Research UK aufgeführt. Diese hatte die Risiken des Fußballsports (Zeitraum: Anfang November 2021 bis Ende April 2022) in einer Studie untersucht. Sie lieferte die aktuelle Evidenzbasis zu neurodegenerativen Folgeerkrankungen des Fußballspiels wie dem Morbus Alzheimer. Bereits im August veröffentlichte die Wohltätigkeitsorganisation Alzheimer’s Research UK, dass das Risiko einer neurodegenerativen Erkrankung mit der Länge der Spielerkarriere ehemaliger Profifußballer positiv korrelieren würde. Die FIELD-Studie aus dem Jahr 2019 konnte ein erhöhtes Demenzrisiko für ehemalige Profifußballer in Schottland aufzeigen. In dieser groß angelegten Studie wurden insgesamt 7.676 ehemalige schottischen Fußballprofis, die zwischen 1900 und 1976 geboren wurden, eingeschlossen. Die wissenschaftlichen Daten ermahnen zu mehr Vorsicht im Fußballsport. Kopflosigkeit könnte langfristig manchen Spieler den Verstand kosten.9-12

Mehr Informationen rund um das Thema Bewegung finden Sie auf der Seite des SMHS. 

SMHS_Logo_Claim_Unten.pngDer Sports, Medicine and Health Summit ist ein interdisziplinäres Fortbildungsforum für Sport, Medizin und Gesundheit. Vom 22. - 24. Juni 2023 treffen sich nationale und internationale Vertreter und Vertreterinnen aus Medizin, Sport und Gesundheit, um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu präsentieren.

Referenzen:
  1. https://www.dfb.de/news/detail/nachwuchs-und-kopfball-dfb-beschliesst-altersgemaesse-richtlinien-236483/
  2. https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Hirntrauma-beguenstigt-wohl-Parkinson-304204.html
  3. Castellani RJ, Perry G. Dementia Pugilistica Revisited. J Alzheimers Dis. 2017;60(4):1209-1221. doi: 10.3233/JAD-170669. PMID: 29036831; PMCID: PMC5676846.
  4. Pearce N, Gallo V, McElvenny D. Head trauma in sport and neurodegenerative disease: an issue whose time has come? Neurobiol Aging. 2015 Mar;36(3):1383-9.
  5. Ueada, P. et al. (2023): ‘Neurodegenerative disease among male elite football (soccer) players in Sweden: a cohort study’ The Lancet Public Health. DOI: https://doi.org/10.1016/S2468-2667(23)00027-0
  6. Inserra CJ, DeVrieze BW. Chronic Traumatic Encephalopathy. 2022 Aug 8. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2022 Jan–. PMID: 29262155.
  7. McCunn R. et al. (2021). Heading in Football: Incidence, Biomechanical Characteristics and the Association with Acute Cognitive Function-A Three-Part Systematic Review. Sports Med. 2021 Oct;51(10):2147-2163. 
  8. Levitch C. F. et al. (2018). Recent and Long-Term Soccer Heading Exposure Is Differentially Associated With Neuropsychological Function in Amateur Players. J Int Neuropsychol Soc. 2018 Feb;24(2):147-155.
  9. https://www.bundestag.de/resource/blob/898218/95c2310542dfa6b38e217a7992f90589/WD-10-019-22-pdf-data.pdf
  10. Alzheimer’s Research UK: Understanding the link between sport and dementia risk. 
  11. Russel/Mackay/Stewart et al: Association of Field Position and Career Length With Risk of Neurodegenerative Disease in Male Former Professional Soccer Players. In: JAMA Neurol. 2021; 78(9): 1057-1063; doi:10.1001/ja- maneurol.2021.2403.
  12. https://www.alzheimersresearchuk.org/career-length-linked-with-increased-dementia-risk-in-ex-professional-footballers/