1825 entwickelte der 16 Jahre alte Louis Braille die nach ihm benannte Punktschrift für Blinde. Für Betroffene ist sie bis heute unverzichtbar. Aber das Spektrum an Hilfsmitteln wächst.
Mal eben einen Latte Macchiato aus dem Kaffeeautomaten ziehen - für Menschen mit einer Sehbehinderung ist das alles andere als eine Kleinigkeit. Wo früher erfühlbare Knöpfchen waren, haben die Maschinen heute oft Touchscreens - eine völlig glatte Fläche, deren Bedienung für Menschen, die nicht oder nur eingeschränkt sehen können, quasi unmöglich ist. Dieses Problem hätten Betroffene neuerdings reihenweise mit Geräten, sagt Thomas Schmidt vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin (ABSV). "Wir setzen uns dafür ein, dass Haushaltsgeräte barrierefrei sind."
Wie das gehen kann, erläutert Schmidt, Hilfsmittelreferent beim ABSV, am Beispiel einer Waschmaschine. Er zeigt ein für Sehende unscheinbares Gerät, auf dessen Display transparente Erhebungen aus Plastik angebracht sind. Mit sensiblen Fingerspitzen lassen sich die Bedienfelder ertasten. Die Spezialanfertigung können Sehende dennoch benutzen. Produkte wie dieses konnten Betroffene kürzlich bei einer Messe beim ABSV kennenlernen.
Es dürfte ein Wachstumsmarkt sein: Nachdem die Zahl der blinden und sehbehinderten Menschen weltweit in den vergangenen 25 Jahren rückläufig war, wird sie einer Studie zufolge in Zukunft steigen. Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation, vermeidbare Ursachen wie die Augenerkrankung Grauer Star und unkorrigierte Fehlsichtigkeit bis 2019 um ein Viertel zu reduzieren, sei kaum noch erreichbar, berichtete der Verband für Blindheitsverhütung IAPB im Fachblatt The Lancet. Vielmehr werde der Anteil der Betroffenen bis 2020 um 5,6 Prozent steigen. Auch die erwartete Zunahme an Diabetes-Fällen und die alternde Bevölkerung dürften vermehrt Augenerkrankungen und Sehprobleme nach sich ziehen.
Wie sehr die Welt auf Sehende auslegt ist, wird beim Besuch des Hilfsmittelladens beim ABSV deutlich: Unter den mehreren Hundert Artikeln gibt es dort neben Klassikern wie Blindenstöcken auch sprechende Waagen, Armbanduhren mit erfühlbarem Zeiger oder ein kleines Gerät für den Glasrand, das akustisch signalisiert, wenn die maximale Füllhöhe erreicht ist. Andere Geräte können die Farbe von Kleidungsstücken ansagen.
Einen wichtigen Helfer trägt auch fast jeder Sehende heutzutage in der Tasche: das Smartphone. Halte der Trend an, dass sich Haushaltsgeräte über die Sprachsteuerung im Handy bedienen lassen, könne das wieder eine Erleichterung werden, erwartet Schmidt.
Allerdings sind solche neuen digitalen Technologien wie Apps oder Webdienste eher eine Unterstützung für Jüngere, glaubt Cornelia Jurrmann. "Jedes Jahr erblinden in Deutschland circa 10.000 Menschen", erläutert die Sprecherin des Sozialverbandes VdK. Zu diesem Zeitpunkt sei etwa die Hälfte der Betroffenen 80 Jahre oder älter. Diese Gruppe könne viele Techniken nicht mehr erlernen.
Über den Wandel der Zeit bleibt die Braille-Schrift für Betroffene bis heute ein wichtiges Hilfsmittel. Sie sei auch im Alter noch erlernbar, wenn auch nicht so leicht wie für Menschen, die von Geburt an blind sind, sagt Thomas Schmidt. Und sie habe den Sprung ins Digitalzeitalter geschafft, betont er vor dem Welt-Braille-Tag (4. Januar) zu Ehren des Erfinders Louis Braille.
Schmidts Finger gleiten flink über seine sogenannte Braille-Zeile. Das ist eine schmale Leiste unterhalb der Computer-Tastatur, mit der er kontrollieren kann, was er im Zehn-Finger-System geschrieben hat. Tippt er, fahren Mini-Plastikteilchen nach oben und bilden den entsprechenden Buchstaben in der Punktschrift nach. Die Kosten für diese Ausstattung liegen auch heute noch bei mehreren Tausend Euro, früher waren sie so teuer wie ein Kleinwagen. Ergänzt wird sie etwa durch Programme, die Bildschirminhalte vorlesen.
Braille-Schrift hat damit längst nicht mehr nur mit Papier zu tun. Was auch daran liegt, dass zum Beispiel die entsprechenden Bücher nicht gerade Handtaschenformat haben: Ein Band aus der Harry-Potter-Reihe etwa umfasse mehrere Aktenordner, für die Bibel brauche man eher einen ganzen Aktenschrank, sagt Schmidt. "Sowas stellt sich keiner Zuhause hin." Solche Ausgaben leihe man sich aus.
In Zukunft werden wohl weitere technische Hilfsmittel Betroffenen das Leben erleichtern. Entwickelt sind bereits etliche, noch an Science Fiction erinnernde Produkte: Brillen, die Straßenschilder oder Speisekarten vorlesen. Oder Navigationsgürtel: Man gibt am Smartphone das Ziel ein und lässt sich von Vibrationen nach links, rechts oder geradeaus leiten. Bis so etwas Alltag wird, könnte es allerdings dauern.
Schon bei heutigen Hilfsmitteln ist Geld ein Problem. Für teure Technologien scheine der Weg zur Kostenerstattung weit zu sein, sagt Jurrmann vom VdK. Die Erfahrung: "Krankenkassen lehnen Anträge öfter ab, oder Versicherte sollen sich mit günstigeren, aber untauglichen Hilfsmitteln zufriedengeben, die sich im täglichen Gebrauch nicht bewähren."
Was ließe sich ändern, damit Blinde nicht immer weiter aufrüsten müssen? "Schöner wäre es natürlich, wenn alle Orte barrierefrei zugänglich wären, ohne dass es vieler weiterer Hilfsmittel bedarf", sagt Jurrmann. Sie fordert: "Barrierefreiheit muss zum grundlegenden Design- und Qualitätsmerkmal werden."