Der Verlust des Augenlichts ist ein einschneidendes Erlebnis - und unumkehrbar. Ein Glasauge hilft den Patienten zumindest kosmetisch. Die Herstellung der Prothese ist eine große Kunst, die in Deutschland nur wenige beherrschen.
Wenn Ocularist Jan Müller-Uri eine von vielen Schubladen in seiner Praxis öffnet, blickt er in dutzende Augen. Es sind Glasaugen mit allen denkbaren Iris-Farben, jedes ein Unikat. Müller-Uri wählt eines aus, das der natürlichen Augenfarbe des Patienten am nächsten kommt. Die endgültige Form gibt er dem Glasauge dann über einem Bunsenbrenner an seinem Arbeitsplatz im Institut für künstliche Augen, F.Ad. Müller Söhne OHG. Das Wiesbadener Familienunternehmen stellt seit 1860 Glasaugen her.
In der Patientenschaft sind alle sozialen Schichten, viele Nationalitäten und jedes Alter vertreten. "Den Verlust eines Auges kann jeden treffen", sagt Müller-Uri. Sei es durch Krankheit, eine Kriegsverletzung oder einen Unfall. Sein jüngster Patient sei gerade 14 Stunden alt gewesen, sein ältester 104 Jahre.
Als er 1984 in den Beruf eingestiegen sei, habe die Praxis noch 2.500 Kriegsversehrte betreut, erzählt der 53 Jahre alte Glasaugenmacher. Heute sind es noch rund 50 - darunter vereinzelt Bundeswehrsoldaten, die etwa im Einsatz in Afghanistan verletzt wurden. Müller-Uri betreut seit einigen Jahren auch immer mehr Flüchtlinge. Deren überwiegende Zahl habe ihr Auge durch Minensplitter verloren. "Ich merke das auch daran, dass dunkle Farben wie Grau-Braun knapp werden."
Aus einem der rund 3.000 kugelartigen Rohlinge formt der Ocularist die eigentliche Augenprothese. Sie gleicht einer flachen, gewölbten kleinen Scheibe, wie ein Stück aus einem 3D-Puzzle. Mit ihren ungleichmäßigen Rändern wird sie der individuellen Augenhöhle angepasst. "Viele Menschen denken, ein Glasauge wäre eine Kugel. Aber dann würde es sich ja in der Augenhöhle unkontrolliert drehen", sagt Müller-Uri. Die flachen Prothesen dagegen sitzen stabil hinter den Lidern.
Nach den Erfahrungen des Experten werden in einer deutschen Großstadt etwa 30 Augen pro Jahr entfernt. Um die Patienten zu versorgen, arbeiten in Deutschland gut 70 Ocularisten, das Institut von Müller-Uri ist mit zwölf Angestellten das größte. Sein Ur-Ur-Großvater kam aus dem thüringischen Lauscha nach Wiesbaden und gründete hier das Institut. Für die Familiennachfolge ist gesorgt - ein Sohn von Müller-Uri macht gerade eine Ausbildung. Rund sechs Jahre dauert es, bis sich jemand nach Lehre und Assistenzzeit Ocularist nennen darf.
Der Bundesverband der Augenärzte Deutschlands sieht die Patienten bundesweit gut mit Glasaugen versorgt. In der Regel könne der Arzt den Betroffenen sogar mehrere Augenkünstler zur Auswahl nennen, erklärt Sprecher Ludger Wollring. Der Augapfel werde nach Möglichkeit so entfernt, dass das Kunstauge durch die verbliebenen Augenmuskeln etwas mit bewegt werden kann. "Hierdurch können – in Verbindung mit einer in Größe und Aussehen gut angepassten Prothese – hervorragende kosmetische Ergebnisse erzielt werden", sagt Wollring.
Ein Patient braucht regelmäßig ein neues Glasauge, berichtet Müller-Uri. Denn auch das Spezialglas leidet mit der Zeit unter Abnutzung, die Tränenflüssigkeit greift auf die Dauer die Oberfläche an. "Im Umgang mit dem Patienten ist viel Empathie wichtig", sagt der Ocularist. Naturgemäß ist der Verlust eines Auges ein einschneidendes Erlebnis. "Wir können dem Patienten zwar nicht das Augenlicht zurückgeben, aber Lebensqualität."
Ein gut gemachtes Glasauge ist von dem natürlichen Auge kaum zu unterscheiden. Müller-Uri achtet nicht nur auf die Farbe der Iris, sondern auch auf das Augenweiß. Es ist bei manchen Menschen eher gelblich, bei anderen eher bläulich. Über der Flamme des Bundesbrenners bildet er auch die feinen Äderchen im Auge nach. Während der Arbeit sitzen die Patienten neben ihm - in rund ein bis zwei Stunden ist eine Prothese fertig.