Landärztemangel ist zu einem geflügelten Wort geworden. Vor allem in ländlichen Gegenden sorgt man sich, dass irgendwann keine Mediziner mehr in die Provinz ziehen wollen. Noch gibt es sie aber. Ein Besuch bei einem waschechten Landarzt im Sauerland.
Als Michael Beringhoff mit seiner 26 Jahre alten Arzttasche das Haus des Ehepaares Günzel betritt, treffen zwei Spezies aufeinander, die als bedroht gelten: Der Landarzt und der Kaninchen-Züchter. Eine ganze Wand haben die Günzels mit Preisen und Ehrungen zu Zucht-Erfolgen dekoriert. Herbert Günzel betrachtet sie zufrieden, während Arzt Beringhoff, der zum Hausbesuch gekommen ist, seiner Frau den Blutdruck misst. Herbert Günzel ist dem Arzt in einem Punkt weit voraus: Er hat längst einen Nachfolger.
"Der Sohn macht das weiter", sagt er, nicht ohne Stolz. "Ich hatte immer die Hoffnung, dass er das Hobby übernimmt." Und bei den Landärzten? Ja, da habe er von Nachwuchssorgen gehört: "Als Patient merkt man schon, wie überlastet der Hausarzt ist." Von Beringhoff, der immer noch Frau Günzel untersucht, schallt es ziemlich schnell zurück: "Aber hektisch bin ich ja nicht, oder?" Alle lachen.
Michael Beringhoff und die Günzels kennen sich seit Jahren, das merkt man an der Art, wie sie miteinander sprechen. Sie ist zwar fürsorglich, aber auch ziemlich direkt, so wie viele Leute im Sauerland miteinander sprechen. Für rund 1400 Menschen ist Beringhoff hier der Hausarzt. Seine Praxis steht in Neuenrade, einem Ort, der stolz ist auf sein Schützenfest und dessen Größe man erahnen kann, wenn man sich Beringhoffs Praxisanschrift anschaut: Zweite Str. 1.
Neuenrade plagen Sorgen, wie sie viele Städtchen auf dem Land haben: Wie bekommen wir junge Mediziner? In einigen ländlichen Gegenden liegen schon beachtliche Wege zwischen Patient und Arzt. Andere Orte fürchten sich, weil ihre Ärzte immer älter werden, aber keinen Nachfolger finden, der in die Provinz ziehen will. Ein Gespenst geht um, es trägt den Namen Ärztemangel.
Michael Beringhoff bei Hausbesuchen zu begleiten ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Mit 64 Jahren ist er der zweitjüngste Arzt im Ort, wie er erzählt. Er kennt noch die Zeiten, als dem Herrn Doktor bei Hausbesuchen erstmal ein Schnaps angeboten wurde. Er hat auch schon Hunde und Katzen geimpft.
"Viele jüngere Kollegen wollen zum Beispiel nicht mehr alleinverantwortlich tätig sein. Viele haben auch eine andere Lebensplanung", sagt Beringhoff. Lange sei der Hausarzt auch schlecht geredet worden - viel Arbeit, ausbaufähiges Einkommen. Das stimme aus seiner Sicht zwar ganz und gar nicht, man könne gut davon leben, sagt Beringhoff. Aber das sei so die Gemengelage. Seine Arzttasche, die ihm seine Eltern zur Praxiseröffnung geschenkt haben, hat er mittlerweile wieder eingepackt. Abschied von den Günzels. Aber nicht, ohne noch die Mutter aller Hausarztfragen zu stellen: "Und sonst?"
Beringhoffs großer Vorteil ist, dass er viele Patienten seit vielen Jahren mitsamt aller Familiengeschichten kennt. "Man kennt die alle. Ich weiß' auf den zweiten Blick, was los ist, auch ohne große Untersuchung", sagt er. Das hilft auch einzuschätzen, wie groß die Not ist, wenn jemand anruft. Der Hausarzt weiß dann recht schnell, ob er besser sofort hinfährt oder ob die nächste Woche reicht.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung etwa verweist bei den Landärzten auf gesellschaftliche Veränderungen: Die Menschen zieht es in die Städte, auch andere Strukturen auf den Dörfern gehen verloren. Natürlich müsse man die Versorgung sicherstellen. Aber vom Bild des Landarztes aus dem Fernsehen, der dem Jeep herumfährt rund um die Uhr Probleme löst, müsse man sich verabschieden.
Hausärzte wie Beringhoff sind tatsächlich so etwas wie die Allrounder unter den Medizinern. Viele junge Kollegen, die er trifft, sprechen daher ehrfurchtsvoll davon, was er in seinem Job alles wissen müsse. "Ich sag' dann: Ich muss das nicht alles wissen", berichtet Beringhoff. "Ich muss mir nur zu helfen wissen."
Das ist so in etwa die Definition zum Schild an seiner Tür. Dort steht "Landarztpraxis".
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