esanum-Gespräch mit Prof. Dr. Javid Sehouli, Direktor der Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie, Charité, Campus Virchow-Klinikum über onkologische Fragen und Krebstherapien in Corona-Zeiten
esanum: Herr Prof. Sehouli, kommen die Krebspatienten in unserem Land derzeit zu kurz?
Sehouli: Ich habe das Gefühl, dass die Rahmenbedingungen für onkologische Patienten aktuell erschwert sind. Das passiert auf allen Ebenen: Geht es um die Diagnostik, um Prävention, um Therapie und um Nachsorge. Wir planen deshalb eine Studie für Patientinnen, um ihre Erfahrungen in dieser Pandemie-Hochzeit zu artikulieren.
esanum: Alles Wissen, alle Wahrheiten sind derzeit im Fluss, was beschäftigt Sie derzeit vorrangig?
Sehouli: Es gab eine Zeit vor Covid, es gab die Covid-Hochphase mit vielen Unsicherheiten. Und jetzt geht es um eine Situation, in der man mit Covid irgendwie lebt. Und deswegen sollte man jetzt erstmal schauen: Wie war denn die Situation vor Covid in den verschiedenen Krankheitsfeldern? Wie waren die Ansprüche an die Qualität, welche Rahmenbedingungen hatte ich vor Covid, war ich damit zufrieden? Und dann kann man sehen, wie war es denn in den letzten sechs bis acht Wochen? Und wie möchte ich in einer Zeit, in der ich vielleicht auf 80 Prozent dessen komme, was vor Covid üblich war, in Zukunft umgehen?
esanum: Warum 80 Prozent?
Sehouli: Ich denke nicht, dass wir wieder auf 100 Prozent kommen, weil wir weiter Vorhaltemaßnahmen haben werden. Ob das die 1,5-Meter-Distanz ist oder Hygienemaßnahmen, die Verhinderung von Großveranstaltungen – das hat mit Kongressen, mit Patientendedukation zu tun. Insgesamt werden wir eine Entschleunigung erleben.
esanum: Was ist jetzt anders auf der Krebsstation?
Sehouli: Ganz viel. Nehmen wir den ambulanten Bereich - der ist häufig für Aufklärung und für Zweitmeinungen da. Dieser partizipatorische Prozess ist ja ein ganz wichtiger Ansatz. Das heißt, die Patienten sollen informiert und aufgeklärt werden. Aber wenn wir eine Mobilitätseinschränkung haben oder Patienten Angst haben, in Krankenhäuser oder Praxen zu gehen, dann schränken wir die Mündigkeit der Patienten ein. Für Zweitmeinungen haben wir jetzt deutlich weniger Präsenztermine, und wenn die Diagnostik, die mit der Zweitmeinung assoziiert ist, auch weniger Ressourcen hat, wie zum Beispiel beim Pet-CT, ist der Prozess der Zweitmeinung viel schwieriger.
esanum: Welche medizinischen Versorgungsfragen stellen sich durch die Corona-Pandemie aus Ihrer Sicht neu?
Sehouli: Wir sehen bei komplexen Erkrankungen, die eine multimodale, interdisziplinäre, ressourcenintensive Versorgung brauchen, erhebliche Einbußen, wenn die Schnittstellen nicht mehr so einfach verfügbar sind, wenn die ambulante und stationäre Klinik-Kommunikation beeinträchtigt ist. Man kann weniger Studien anbieten, man hat seltener eine Zweitmeinung im Sinne einer operativen Abklärung oder zur Veränderung der Therapie. Deswegen brauchen wir ein sektorenübergreifendes stabiles Konzept, wie wir in Krisenzeiten den hohen Anspruch an Qualität und Alternativen sicherstellen können. Ein Beispiel: Wir haben an der Charité ein großartiges Zentrum für Hirntumoren, müssen aber gleichzeitig die Intensivstation für die Covid-Fälle meistern. Das muss beides gleichzeitig laufen. Und wir haben neue Abteilungen geschaffen, die nur durch Umstrukturierungen von peripheren und zentralen Bereichen einigermaßen zu meistern sind. Wenn wir die Intensivstationen intensivieren, dann fehlen Ressourcen für die Versorgung von komplexen Erkrankungen.
esanum: Werden einige Grundsätze der Krebstherapien derzeit über Bord geworfen, bzw. aufgeweicht?
Sehouli: Ich bin der Meinung, dass die Grundsätze von Diagnostik und Therapie unabhängig von Krisensituationen immer dieselben sein sollen. Das müssen wir aufrechterhalten. Doch ich sehe, dass wir nicht darauf vorbereitet waren. Wir hatten den Luxus, dass wir immer alles zur selben Zeit machen konnten. Jetzt mussten wir zum ersten Mal priorisieren. Also beispielsweise: Nachsorge und Prävention sind wichtig – aber nicht jetzt! Oder: Muss die Chemotherapie heute sein oder könnte das auch in zwei Wochen gemacht werden? Ich habe auch schon international erlebt, dass Therapiestandards ausgesetzt wurden und dass das verschriftlicht wurde. Also beim Ovarialkarzinom lieber neoadjuvante Chemotherapie, obwohl man weiß, dass das nicht so effektiv ist – einfach, weil Ressourcen fehlten.
esanum: Das sind sehr schwere Entscheidungen, auch ethisch – wer hilft dabei?
Sehouli: Absolut! Wir an der Charité haben Teambesprechungen mit dem psychologischen und dem psychoonkologischen Dienst gehabt, um diese ethische Diskussion zu führen. Diese genannten Priorisierungen wie in anderen Ländern, gab es bei uns bisher nicht. Aber wenn ich insgesamt weniger Operationen machen kann, dann mache ich eher Primäroperationen als Rezidivoperationen. Das sind auch emotionale Konflikte. Und der Deutsche Ethikrat hat ja dazu auch ein Statement abgegeben. Bisher haben wir in unserer Aus- und Weiterbildung keine Kultur der ethischen Diskussion. Und ich wünsche mir, dass wir in Zukunft Raum haben zu thematisieren: Was ist wichtig? Wie wichtig ist eine Rezidivoperation und wie wichtig ist es, einen, der 95 Jahre alt ist, auf die Intensivstation zu legen? Was bedeutet palliative Medizin?
esanum: Dafür ist jetzt sicher wenig Zeit, jetzt müssen Sie sofort entscheiden, welche Operationen wichtig sind und welche warten können.
Sehouli: Richtig. Und dafür ist der Arzt nicht trainiert, weder wie er das mit den Kollegen kommuniziert, noch mit den Patienten. Das ist auch ein Teil unserer Umfrage, die bei der Ethikkommission eingereicht wird. Wie gehen wir mit solchen Diskussionen um und wie erklären wir dem Patienten, wenn wir eine Therapie verschieben, dass die Effektivität vielleicht nicht eingeschränkt ist? Das gab es bisher nicht. Natürlich gibt es mitunter auch Therapien, die nicht sofort morgen stattfinden konnten, auch unabhängig von Covid. Wir müssen jetzt eine Balance finden zwischen „wir dürfen nichts mehr machen“ und dem „wir machen alles, was geht“. Und diese Balance muss im regionalen, nationalen und internationalen Kontext gefunden werden. Ich bin sehr dagegen, jetzt international aus der Not heraus Standards zu definieren, die gegen die Leitlinien laufen.
esanum: Haben Sie ein Beispiel?
Sehouli: Bei Krebs während der Schwangerschaft wird häufig mit der Therapie gewartet – daraus nun zu schließen, das können wir jetzt auch machen, ist falsch. Und daraus dann sogar ein Statement zu machen – das geht gar nicht. Wir brauchen eine klare Diskussion, welche Institution baucht welche Rahmenbedingungen für welche komplexen Erkrankungen? Wir können nicht wie in einem Tante-Emma-Laden alles anbieten und dann traurig sein, wenn das eine oder andere in der Notsituation nicht gemacht werden kann. Das ist der falsche Weg.
esanum: Sind Frauen mit einem Tumorleiden stärker infektionsgefährdet?
Sehouli: Es gibt nicht genug Zahlen, aber wir gehen davon aus, dass Krebspatienten eher zu den Risikopatienten zählen. Doch man muss das sehr differenziert sehen. Das Alter und die Komorbiditäten sind von besonderer Bedeutung. Bei einer Studie aus China mit Bronchialkarzinomen, sah man, dass Patienten unter aktiver Krebstherapie ein höheres Risiko haben als Patienten, die keine aktive Erkrankung haben.
esanum: Besteht die Gefahr, dass die diagnostische Abklärung verzögert wird?
Sehouli: Ich vermute, das ist so. Wenn ich an Darmkrebsvorsorge oder Brustkrebsvorsorge denke, da werden Prävention und Frühdiagnostik durchaus leiden. Es ist schwer, das methodisch zu beweisen, doch ich habe das Gefühl, dass die eine oder andere Patientin in einem fortgeschrittenen Stadium kommt, vielleicht aus Angst, jetzt zum Arzt zu gehen oder weil sie nicht so schnell einen Termin bekommen hat. Das wird man in Ruhe aufarbeiten.
esanum: Wie sieht es mit Erhaltungs-Therapien aus?
Sehouli: Im Gegensatz zu einigen internationalen Statements sehe ich keine Indikation, eine Erhaltungstherapie zu reduzieren. Man muss sich überlegen, ob die Kontrollbesuche über telemedizinische Instrumente funktionieren. Wir machen das teilweise so.
esanum: Was gibt es aktuell für die hausärztliche Führung eines Tumor-Patienten zu bedenken?
Sehouli: Hausärzte haben grundsätzlich eine sehr große Rolle. Und es ist wichtig, dass wir in der Nachsorge und in der Therapiebegleitung über neue strukturierte Dialoge nachdenken. Wir brauchen zum Beispiel Krisentelefone. Wir machen mit den Frauenärzten einmal die Woche eine Telefonkonferenz und diskutieren Fragen der Kollegen und die Situation in den Praxen. Das kann man auch mit Hausärzten machen. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir in solchen Krisensituationen regelmäßige Strukturen implementieren, wo wir all diese Fragen diskutieren können. Die Covid-Situation bringt viele Dinge ans Licht, die notwendig sind, um eine hohe Qualität in der Versorgung aufrechtzuerhalten. Und ich spüre die politische Bereitschaft, diesen Dialog in einer Struktur umzusetzen.
Erfahren Sie mehr, bei der der Expertenrunde "COVID-19 in der Praxis", die mit den Schwerpunkten Onkologie und Gynäkologie am 13. Mai von von 14:00 – 16:00 im Livestream zu sehen sein wird und konkrete Hilfestellung für die hausärztliche Praxis bietet: www.esanum.de/live. Via Live Chat richten Sie Ihre Fragen direkt an Professor Sehouli, der als Studiogast dabei sein wird.