Das Zelltod-regulierende Protein MCL1 schützt offenbar vor Darmkrebs – und zwar unabhängig von mikrobiell ausgelösten Entzündungen. Dies muss vor allem auch beim Einsatz von MCL1-Hemmern in der Krebstherapie berücksichtigt werden.
Das kolorektale Karzinom ist die häufigste Form von Darmkrebs und weltweit die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache. Obwohl einige Betroffene eine genetische Veranlagung aufweisen, treten die meisten Fälle spontan auf und sind hauptsächlich auf den Anstieg der westlichen Lebensweise zurückzuführen – gekennzeichnet durch Übergewicht, schlechte Essgewohnheiten und körperliche Inaktivität.
Eine aktuell veröffentlichte Studie wirft nun ein neues Licht auf den Beginn dieser Erkrankung: Ein internationales Team konnte im Mausmodell nachweisen, dass ein Protein namens MCL1 essenziell ist, die Darmschleimhaut intakt hält und dadurch auch vor Darmkrebs schützt.
Für ihre Untersuchungen veränderten die Forschenden das Erbgut von Mäusen so, dass in den Zellen der Darmschleimhaut kein MCL1-Protein mehr hergestellt wurde. Normalerweise hemmt dieses Protein den Zelltod und trägt so zum richtigen Verhältnis zwischen absterbenden und neu gebildeten Zellen in der Darmschleimhaut bei. Der Verlust der MCL1-Funktion führte bei den Mäusen zu einer irreparablen Schädigung des Darms und in der Folge spontan zur Ausbildung von Tumoren. Ähnliche Veränderungen lassen sich auch im Darm von Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen beobachten, die ebenfalls ein erhöhtes Darmkrebs-Risiko haben.
Die Rolle mikrobiell ausgelöster chronischer Entzündungen bei der Entstehung von Darmkrebs ist seit Langem bekannt, und sie wurden bisher als wesentlicher Auslöser angesehen. "Bemerkenswert ist aber, dass ein Mangel an MCL1 auch ohne eine von Bakterien erzeugte Entzündung zu Darmkrebs führt", sagte Achim Weber, Professor am Institut für Molekulare Krebsforschung der Universität Zürich (UZH) und am Institut für Pathologie und Molekulare Pathologie am Universitätsspital Zürich.
Dies zeigten Versuche, in denen die Mäuse ohne MCL1-Protein in einer keimfreien Umgebung gehalten wurden. "Das bedeutet, dass schon der Verlust bestimmter Gene offenbar ausreicht, um die Entstehung von Darmkrebs voranzutreiben – auch unabhängig von einer mikrobiell bedingten Entzündung. Diese Erkenntnis ist überraschend und fördert unser Verständnis für die kritischen frühen Schritte bei der Entstehung von Darmkrebs erheblich", so Weber weiter.
Überraschend ist auch ein zweiter Befund: In einigen Tumorarten – einschließlich des kolorektalen Karzinoms – gibt es zu viel statt zu wenig MCL1-Protein. Man nimmt an, dass diese Tumoren die Produktion von MCL1 hochregulieren, um einen Überlebensvorteil zu haben, wodurch sie auch konventionellen Therapien besser widerstehen können. Daher wird derzeit eine Reihe neuer Krebstherapien erprobt, die die Funktion von MCL1 hemmen sollen.
Die Ergebnisse der Studie zeigen jedoch, dass nicht nur die Überproduktion, sondern auch der Mangel an MCL1 schädlich sein kann. Möglicherweise löst der – vielleicht nur vorübergehende – Verlust der MCL1-Funktion eine Störung der Darmschleimhaut und die ersten Schritte der Tumorentwicklung aus. "Die Regulierung dieses Proteins ist eine Gratwanderung", warnte der Erstautor der Studie, Marc Healy, abschließend: "Bei der Anwendung von MCL1-Hemmern in der Krebstherapie ist deshalb besondere Vorsicht angebracht."