Spielen sogenannte BMMFs, neuartige infektiöse Erreger, die in Milchprodukten und Rinderseren gefunden wurden, bei der Entstehung von Darmkrebs eine Rolle? Wissenschaftler*innen um Harald zur Hausen wiesen diese Erreger bei Darmkrebspatient*innen in unmittelbarer Nähe der Tumoren nach. Die Forscher*innen zeigen, dass die BMMFs dort lokale chronische Entzündungen auslösen, die über aktivierte Sauerstoffmoleküle Mutationen auslösen und damit langfristig die Krebsentstehung fördern können. BMMFs und Entzündungsmarker waren in der Umgebung bösartiger Darmtumoren signifikant häufiger nachweisbar als im Darmgewebe tumorfreier Personen.
Vor wenigen Jahren hatten Wissenschaftler*innen um Ethel-Michele de Villiers im Deutschen Krebsforschungszentrum eine neuartige Form infektiöser Erreger in Milchprodukten und Rinderseren entdeckt. Dabei handelte es sich um ringförmige DNA-Elemente, die große Ähnlichkeit mit Sequenzen bestimmter bakterieller Plasmide aufweisen. Nach ihrem Fundort wurden sie als "Bovine Meat and Milk Factors", kurz BMMFs, bezeichnet.
Den BMMFs auf die Spur gekommen war de Villiers gemeinsam mit Harald zur Hausen beim Überprüfen einer Hypothese: Ausgehend von epidemiologischen Beobachtungen hatte der Nobelpreisträger einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Rindfleisch bzw. Milchprodukten und dem Auftreten von Darmkrebs postuliert. "Es erschien uns wahrscheinlich, dass ein infektiöser Erreger, der vom europäischen Hausrind auf den Menschen übertragen wird, mit der Entstehung von Darmkrebs in Verbindung steht", so zur Hausen.
Mittlerweile konnten de Villiers und Mitarbeiter*innen über hundert verschiedene dieser DNA-Ringe aus Milchprodukten isolieren. Die BMMFs können sich in menschlichen Zellen vermehren und bilden dort ein Proteinprodukt, Rep, das sie für ihre Vermehrung benötigen. Doch wie könnten diese Elemente zur Entstehung von Darmkrebs beitragen?
Dieser Frage sind Wissenschaftler*innen aus dem Team um Timo Bund nun an Gewebeproben von Darmkrebs und vom gesunden Darm nachgegangen. Zum Nachweis der Erreger nutzten die Forscher*innen Antikörper, die sie gegen das Rep-Protein generiert hatten. Damit konnten sie BMMFs in 15 von 16 Darmkrebs-Gewebeproben nachweisen!
Bei der Färbung von Gewebeschnitten mithilfe dieser Antikörper stellte sich zur Überraschung der Wissenschaftler*innen heraus: Nicht die Krebszellen selbst enthielten das Rep-Protein, sondern die Zellen in der nächsten Umgebung der Tumoren. Insbesondere in der Lamina propria, der unter der Darmschleimhaut gelegenen Bindegewebsschicht, und dort vor allem in der Umgebung der Darmkrypten, wies der Antikörper das Rep-Protein nach. Aus diesen Rep-positiven Zellen konnten die Forscher*innen auch BMMF-DNA isolieren, die eng verwandt war mit den bereits aus Milchproben isolierten Erregern.
Das Forscherteam hegte den Verdacht, dass die Anwesenheit der BMMFs chronisch-entzündliche Prozesse im Darmgewebe auslösen könnte. Ein Indiz dafür wäre die Anwesenheit entzündungsfördernder Makrophagen. Tatsächlich fanden sich diese Entzündungszellen in direkter Umgebung der Tumoren. Interessanterweise waren die Signale für das Rep-Protein und für den Makrophagen-Marker CD68 nahezu deckungsgleich: Rep liegt also unmittelbar um oder in den Makrophagen vor.
Doch ob der reine Nachweis der BMMFs und die damit verbundene chronische Entzündung tatsächlich mit Darmkrebs assoziiert ist, blieb zuerst unklar. Um das herauszufinden, fahndeten Bund und Kolleg*innen nach kombinierten Rep/CD68-Signalen in Darmkrebsproben und verglichen sie mit Darm-Gewebeproben einer Gruppe jüngerer krebsfreier Kontrollpersonen. Bei den Krebspatient*innen wiesen 7,3% aller Darmzellen in der Tumorumgebung das kombinierte Rep/CD68 Signal auf. Bei den Darmzellen der Kontrollgruppe waren es mit nur 1,7% signifikant weniger.
Ein weiterer Hinweis auf entzündliche Prozesse waren die erhöhten Spiegel an reaktiven Sauerstoffverbindungen, die Ethel-Michele de Villiers, Timo Bund und Kolleg*innen in der Umgebung der Rep-positiven Zellen nachweisen konnten. "Solche Sauerstoffradikale begünstigen die Entstehung von Erbgutveränderungen", erklärte Harald zur Hausen den möglichen Zusammenhang zwischen den neuartigen Erregern und der Krebsentstehung.
So waren die Entzündungen insbesondere in der direkten Umgebung der Darmkrypten lokalisiert. In diesen schlauchförmigen Vertiefungen sitzen die Stammzellen des Darms, die für die ständige Regeneration der Darmschleimhaut verantwortlich sind. Darm-Stammzellen produzieren laufend große Mengen an Vorläuferzellen, die sich schnell teilen und dabei diesem mutationsfördernden Einfluss ausgesetzt sind. Je mehr Mutationen zusammenkommen, desto höher das Risiko, dass auch Gene getroffen werden, deren Defekt das Zellwachstum außer Kontrolle geraten lässt. Chronische Entzündungen sind als Krebstreiber bekannt, ein bekanntes Beispiel ist die Entstehung von Leberkrebs als Folge einer chronischen Infektion mit dem Hepatitis C Virus.
"Wir betrachten die BMMFs daher als indirekte Krebserreger, die teilweise wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg auf die sich teilenden Zellen der Darmschleimhaut einwirken", so zur Hausen. Er gehe davon aus, dass die Infektion mit den BMMFs meist früh im Leben erfolgt, etwa zum Zeitpunkt des Abstillens.
"Die Ergebnisse unterstützen unsere Hypothese, dass der Konsum von Milch und Rindfleisch ursächlich mit der Entstehung von Darmkrebs in Zusammenhang steht, und eröffnen gleichzeitig Möglichkeiten zum präventiven Eingreifen", erklärte zur Hausen. So könnte beispielsweise ein frühzeitiger Nachweis der BMMFs besonders gefährdete Personen identifizieren, die dann rechtzeitig die Darmkrebsvorsorge in Anspruch nehmen sollten.
Auf diese Weise würden potenziell schädliche Erreger zugleich als Marker in der Präventionsarbeit sehr wertvoll. Zukünftig wird auch ersten Anzeichen für einen Zusammenhang zwischen BMMFs und Brustkrebs nachgegangen werden, einer weiteren weltweit medizinisch und wirtschaftlich bedeutenden Tumorentität.
Originalpublikation:
Bund T et al., Analysis of chronic inflammatory lesions of the colon for BMMF Rep antigen expression and CD68 macrophage interactions. PNAS 2021, DOI:10.1073/pnas.2025830118