Die Auswirkungen von Patientenselbstmord in der Psychiatrie

Wie reagieren Psychiaterinnen und Psychiater auf Patientenselbstmord? Die Auswirkungen eines solchen Ereignisses reichen von posttraumatischem Stress bis hin zum Wunsch, den Beruf zu wechseln.

Offen über Schuldgefühle sprechen

Wie reagieren PsychiaterInnen auf Patientenselbstmord? In Frankreich wurde Ende Januar auf dem wichtigsten psychiatrischen Kongress eine nationale Umfrage unter fast 800 Fachleuten vorgestellt. Die Auswirkungen eines solchen Ereignisses sind sehr stark und reichen von posttraumatischem Stress bis hin zum Wunsch, den Beruf zu wechseln. Eine weitere Umfrage konzentrierte sich auf den Fall angehender ÄrztInnen. 

Fast 90% der PsychiaterInnen werden im Laufe ihrer Karriere mit Patientenselbstmord konfrontiert. Laut einer Umfrage1 entwickelte fast ein Viertel von ihnen posttraumatische Symptome: Wiedererleben von Erlebnissen, Alpträume, Vermeidungsverhalten, Angst vor der Rückkehr in ihre Abteilung oder vor der Übernahme bestimmter Fälle. PsychiaterInnen fühlten sich für das Geschehene verantwortlich. Im Gegensatz zu medizinischem Personal in anderen Fachgebieten sind sie in der Regel nicht an den Tod von PatientInnen gewöhnt und werden plötzlich von dieser Realität eingeholt.

Emotionale und professionelle Auswirkungen

Der Selbstmord von PatientInnen wirke sich emotional, aber auch beruflich aus, besonders am Anfang einer Karriere. 20% der PsychiaterInnen erwogen im Anschluss einen Berufswechsel. Ihre Praktiken wurden beeinflusst. Angesichts der Tatsache, dass 8 von 10 Selbstmorden außerhalb des Krankenhauses geschehen, sind 25,5% der betroffenen PsychiaterInnen versucht, die PatientInnen länger im Krankenhaus zu behalten, und 22% zögerten, sie zu entlassen.

Eine Auswertung mit der Impact of Event-Skala zeigte bei etwa einem Viertel der PsychiaterInnen traumatische Reaktionen (IES-Score > 24). Bei 13,6% von ihnen zeigte der IES-Score (> 34) einen Zustand, der auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) schließen ließ. Dieser Zustand kann eine medikamentöse Behandlung und Arbeitsunterbrechungen erfordern. 3,7% der PsychiaterInnen gaben zu, selbst Suizidgedanken gehabt zu haben.

Die Arbeitserfahrung schützte zwar in der Regel vor einer PTBS, aber andere Faktoren erhöhten dieses Risiko. Dazu gehörten der Besuch der PatientInnen am selben Tag, die Vorladung zu einer polizeilichen Untersuchung oder die Kontaktaufnahme mit der Familie nach dem Selbstmord (67,3% der PsychiaterInnen). Laut Dr. Leaune, dem Hauptverfasser der Studie, "zeigte dies, dass PsychiaterInnen besser unterstützt werden müssen, um diesen wichtigen Schritt gehen zu können."

Unzureichende Unterstützung

Laut der Umfrage erhielten 37% der TherapeutInnen keine kollegiale Unterstützung: Es gab keine Teambesprechung im Krankenhaus nach einem solchen Ereignis. Dr. Leaune erklärte, dass "die Ausbildungs- und Unterstützungsbemühungen besonders bei jungen ÄrztInnen verstärkt werden müssen, da 90,5% der Psychiater in den ersten 10 Jahren ihrer Praxis mit dem Selbstmord eines Patienten konfrontiert waren, davon 47,1% während ihrer Facharztausbildung". 'Junge' ÄrztInnen waren angesichts eines solchen Ereignisses, das größere Auswirkungen auf sie hatte, anfälliger.

Auch angehende FachärztInnen und SanitäterInnen betroffen

Eine weitere Untersuchung2 konzentrierte sich speziell auf Personen in ihrer Facharztausbildung. Von den 253 Personen, die geantwortet haben, hatte die Hälfte bereits Patientenselbstmord erlebt. Drei von vier Fällen traten während der ersten zwei Jahre der Facharztausbildung ein. 10-15% der beteiligten angehenden ÄrztInnen zeigten ein hohes Maß an traumatischen und emotionalen Auswirkungen, und 8% zeigten Symptome einer PTBS. Doch nur 75% von ihnen erhielten angemessene Unterstützung. 

Unter den Personen in der Facharztausbildung wurde ein solches Ereignis manchmal als "Übergangsritual" angesehen. Sie waren darauf schlecht vorbereitet und zögerten, ein noch immer tabuisiertes Thema anzusprechen. Manche mochten denken, dass das Reden über ihre Notlage ihre Grenzen aufzeige. Aber für Dr. Leaune ist es wichtig, dass die Schuld klar hervorgerufen wird, dass sie "zirkuliert" und geteilt wird. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die StudentInnen für gewöhnlich alle sechs Monate den Arbeitsort wechseln. Langfristige Folgemaßnahmen sind daher schwierig.

Die Rolle der ÄrztInnen, die ihre Schützlinge während der Facharztausbildung beaufsichtigten, sei von entscheidender Bedeutung. Wenn diese deutlich machten, dass auch sie sich schuldig fühlten, dann fühlte sich das ganze Team berechtigt, zu Schuldgefühlen zu stehen. Aber, wie wir gesehen haben, stehen junge PsychiaterInnen auch oft alleine da. Und schließlich schien den verfügbaren Studien zufolge die Auswirkung von Selbstmord bei SanitäterInnen noch größer zu sein. Dr. Leaune möchte nun einige Untersuchungen zu diesem Thema durchführen.

Ein neues Unterstützungsprogramm

In Lyon entwickeln Dr. Leaune und sein Team derzeit ein Programm, das sich an Praktiken der Schulmedizin orientiert. Institutionelle Fachkräfte, die mit Selbstmord konfrontiert sind, profitieren von persönlicher Unterstützung: Unterstützung durch KollegInnen, Nachbesprechung durch ein externes Team, Unterstützung per Telefon, E-Mail oder individuelle Termine usw.

"Wir führen bereits 5 bis 10 Interventionen dieser Art pro Jahr durch. Eine Evaluierung ist derzeit im Gange. Idealerweise sollten wir auch an der Prävention arbeiten. Während der Facharztausbildung, zu Beginn des Kurses, zu sagen: 'Sie werden höchstwahrscheinlich mit Selbstmord konfrontiert werden. Das Risiko, PTBS zu entwickeln, ist real, und Unterstützung zu suchen, macht Sie nicht zu einem schlechten Facharzt, ganz im Gegenteil'", schloss Dr. Leaune.

Quellen:
Leaune E et al., Impact of exposure to severe suicidal behaviours in patients during psychiatric training: An online French survey.  Early Intervention in Psychiatry 2019; https://doi.org/10.1111/eip.12923