Ein Bandscheibenvorfall ist schmerzhaft – und die häufigste Ursache einer Operation an der Wirbelsäule. Doch ist die gewählte Behandlung immer die richtige? Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die klinische Entscheidungsgrundlage – der Vergleich zweier statischer Bilder – oftmals nicht ausreicht, um die beste Entscheidung für die PatientInnen zu treffen.
Bei plötzlichen Schmerzen im Rücken ist oftmals ein Bandscheibenvorfall die Ursache. Die Bandscheiben sind eine Art Puffer zwischen den Rückenwirbeln und werden über die Jahre stark belastet. Werden sie spröde und brechen, können Teile des Gewebes nach außen treten und auf den Nerv oder den Rückenmarkskanal drücken. Dies kann heftige Schmerzen verursachen. Besonders häufig ist die Lendenwirbelsäule betroffen. Oftmals schrumpft der Bandscheibenvorfall mit der Unterstützung von schmerz- und entzündungshemmenden Medikamenten von allein wieder, doch in schwereren Fällen wird eine Operation nötig.
Die eine Möglichkeit ist, die ausgetretene Bandscheibenmasse zu entfernen, um den Druck auf den Nerv oder den Rückenmarkskanal zu verringern. Dies ist heute dank der Mikrochirurgie ein minimalinvasiver Eingriff.
Die zweite ist es, die betroffenen Wirbel zu versteifen. Dabei werden Schrauben in die Wirbelkörper eingesetzt und die beiden betroffenen Wirbel mit einer Metallkonstruktion fix verbunden. Dies ist insbesondere nötig, wenn sich die Wirbel in der Bewegung stark gegeneinander verschieben. Die Versteifung ist aber ein riskanterer, stark invasiver Eingriff – und manchmal verlagert sich das Problem in der Folge nur: die nachfolgenden Bandscheiben könnten in Folge stärker belastet werden und ebenfalls nachgeben.
Um zu entscheiden, welche Operation nötig ist, verlassen sich ÄrztInnen auf Röntgenbilder. Meist wird ein Bild im aufrechten und ein weiteres im nach vorn gebeugten Zustand erstellt. Wenn sich die betroffenen Wirbel dabei stark zueinander verschieben oder gar verdrehen, ist eine Versteifung notwendig – falls nicht, kann eine Dekompression ausreichen. Verschiedene Studien zeigten aber, dass dieser Vergleich zweier statischer Bilder als Entscheidungsgrundlage oftmals nicht ausreicht: Bei bis zu einem Drittel der PatientInnen, welche die einfachere Operation erhalten, muss nachoperiert werden. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass dies nicht bei allen PatientInnen, bei denen die Wirbel versteift wurden, wirklich nötig war. Das Problem: Die Bilder zeigen nur den Anfangs- und den Endzustand der Wirbelposition – aber nicht, was während der Bewegung selber geschieht.
Forschende des Mechanical System Engineering Lab an der Empa sowie der Abteilung für orthopädische Operationen der Universität Pittsburgh konnten nun zeigen, dass sich die Wirbel während der Bewegung nicht linear verschieben. "Im Gegenteil: Je nach PatientIn zeigten sich stark unterschiedliche Bewegungsmuster", erklärte der Empa-Forscher und Co-Leiter des Projekts, Ameet Aiyangar. Für die Studie, die den ISSLS-Preis in Bioengineering Science 2018 gewann, erstellten die Forschenden bei sieben Bandscheiben-PatientInnen sowie sieben Kontrollpersonen in derselben Altersgruppe eine kontinuierliche, dynamische Röntgenaufnahme, während die PatientInnen ihre Oberkörper langsam nach vorn neigten. Aus den Aufnahmen berechneten die Forscher, wie sich die Wirbel in der sagittalen Rotationsachse sowie flach zueinander bewegten. Die Resultate waren erstaunlich.
Zu erwarten wäre, was sich bei den meisten der gesunden Kontrollpersonen bestätigte, dass bei der Bewegung der sagittale Rotationswinkel und die vertikale Verschiebung gleichmässig zunehmen.
Bei einem Patienten verschoben sich paradoxerweise die Wirbel zuerst in die Gegenrichtung zur Bewegung und dann zurück zur Mitte. Während die Anfangs- und Endposition aussahen, als seien die Wirbel stabil, zeigte sich in der Bewegung eine grosse Instabilität. Bei dem Individuum hätte eine Dekompression allein nicht viel genützt, sondern es wäre eine Versteifung nötig gewesen. Die klinische Analyse hätte bei dieser Person die Instabilität massiv unterschätzt. Das zeigt sich in den Zahlen: Verglichen die Forscher nur den Anfangs- und Endwert der Aufnahmen, zeigte sich ein Verschiebungswert von nur 0,4 mm. In der Bewegung selber beobachteten die Forscher hingegen einen Wert von 4,6 mm – mehr als das 11-fache des traditionell errechneten Wertes.
Bei anderen verschoben sich die Wirbel kaum – rotierten während der Bewegung aber zunächst stark in die Gegenrichtung und wieder zurück. Nur bei zwei der PatientInnen fand eine Bewegung statt, die ungefähr den Erwartungen entsprach. Insgesamt erreichte jede Einzelne der untersuchten PatientInnen eine Verschiebung von mindestens 1,8 mm. Bei der klinischen Berechnung war bei drei der sieben PatientInnen aber eine Verschiebung von weniger als 0,4 mm berechnet worden.
Das zeigt, dass die aktuelle Entscheidungsgrundlage für die Art der Operation oftmals nicht ausreicht – eine dynamische Beurteilung der Schädigung wäre notwendig. Also einfach die statischen durch dynamische Röntgengeräte ersetzen, und das Problem ist gelöst? Ganz so simpel ist es leider nicht. Systeme mit der Technologie, die nötig ist, um die dynamischen Bilder zu erstellen gibt es erst einige wenige weltweit. Und die Berechnungen der Bewegungen sind sehr komplex. "Im Moment existiert die Technologie erst in der Forschung. Wir sind aber in der Frühphase des Übergangs – eines Tages könnten die Geräte Klinikalltag sein", erklärte Aiyangar. Bis dahin, so schlägt der Forscher vor, könnte es zumindest sinnvoll sein, statt nur zweier Bilder in den Endpositionen mehrere Röntgenaufnahmen in verschiedenen statischen Zuständen zu erstellen und zu vergleichen.
Aiyangar hat bereits weitere Ideen: Er will den Nutzen von Therapien bei Bandscheibenvorfällen untersuchen. An der Bewegung und Stabilisierung des Rückens sind 200 unterschiedliche Muskelstränge beteiligt. Es ist unmöglich, sie alle gleichzeitig zu messen, um herauszufinden, welche Therapie den grösstmöglichen Nutzen bringt. "Die Modellierung des komplexen Systems könnte hier viel zur richtigen frühzeitigen Intervention beitragen", meinte Aiyangar. Mit der richtigen Therapie, so die Hoffnung, könnte eine Operation in manchen Fällen sogar ganz vermieden werden.