Interview mit Kinderarzt Dr. Steffen Rabe über eine individuelle Impfentscheidung und mögliche Abweichungen von den STIKO-Empfehlungen
Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sind für die meisten Ärzte und Eltern maßgeblich für das Treffen ihrer Impfentscheidung. Das Reiseverhalten, die persönliche Lebenssituation, insbesondere von Kindern und Säuglingen, sowie Vorerkrankungen berücksichtigt der STIKO-Impfkalender kaum. Die im Verein Ärzte für individuelle Impfentscheidung organisierten Mediziner machen sich für eine stärkere Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände bei Impfungen stark und plädieren für eine individuelle Impfentscheidung.
Der Münchner Kinderarzt Dr. Steffen Rabe ist einer der Gründer des Vereins. Er spricht sich gegen eine Impfpflicht aus und vertritt die Meinung, dass die Entscheidung über Impfungen von Kindern bei den Eltern liegen muss. Er fordert, dass Ärzte eine "profunde und ausführliche Impfberatung" anbieten können, die sie auch abrechnen können, wenn sie am Ende nicht impfen. In Deutschland werde seiner Meinung nach zu viel und zu früh geimpft.
esanum: Herr Dr. Rabe, Sie machen sich für eine individuelle Impfentscheidung stark. Was stört Sie an den Empfehlungen der STIKO?
Rabe: Die Empfehlungen der STIKO sind als Empfehlungen völlig unproblematisch. Sie werden nur leider zunehmend als Pflichtenkatalog interpretiert, der für alle gelten soll und entsprechend abzuarbeiten ist. Dagegen wehren wir uns. Die Impfentscheidung müssen Eltern für ihre Kinder treffen. Das ist in Deutschland rechtlich so vorgesehen.
esanum: Als zwingend notwendig sehen zahlreiche Ärzte und Eltern vor allem die Sechsfachimpfung und die MMR-Impfung an. Welche Vorbehalte haben Sie gegen diese Impfungen?
Rabe: Es gibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, ein Kind oder einen Säugling in Mitteleuropa gegen Hepatitis B zu impfen. Das Ansteckungsrisiko besteht in Deutschland durch Sexualität und intravenösen Drogengebrauch. So schreibt es das Robert Koch-Institut jedes Jahr in seinen Berichten. Für Kinder gibt es also fast kein Risiko. Die Hepatitis-B-Impfung gehört zusätzlich zu den nicht gut verträglichen.
Genauso wenig gibt es einen Grund, ein Kind vor Erreichen der Pubertät gegen Mumps oder Röteln zu impfen. Beides sind Erkrankungen, die im Kinderalter so gut wie nie ernsthafte Komplikationen verursachen. Ein Impfschutz gegen Mumps ist erst ab der Pubertät nötig, weil bei Jungen erst dann das Risiko einer Hodenentzündung besteht; Bei Mädchen sollte ab der Pubertät wegen einer möglichen Schwangerschaft ein Schutz gegen Röteln bestehen.
Die Mumps-Impfung bietet zudem keinen zuverlässigen Schutz und wir sind froh, wenn Jungs vor der Pubertät die Krankheit durchlebt haben und sie damit eine stabile Immunität besitzen. Wir wünschen uns außerdem eine wirksamere Keuchhustenimpfung. Die aktuelle schützt nur sehr unzuverlässig.
Haemophilus Influenza B spielt bei uns in Deutschland selbst bei ungeimpften Kindern fast keine Rolle mehr. Daran erkranken fast nur ältere Erwachsene, für die die Impfung aber nicht empfohlen ist.
esanum: Die Empfehlungen der STIKO sind Empfehlungen – auch hinsichtlich des Zeitpunkts der Impfungen. Inwieweit ist aus Ihrer Sicht der Zeitpunkt für eine Impfung entscheidend? Was ist dadurch gewonnen, wenn man einige Monate oder Jahre später impft?
Rabe: Es gibt gute Hinweise, dass schon ein etwas späterer Impfbeginn – also die erste Impfung erst mit drei statt mit zwei Monaten durchzuführen, wie es die skandinavischen Länder empfehlen – bereits am Ende des ersten Lebensjahres das Risiko für Neurodermitis deutlich senkt. Ein Abwarten bis zum fünften oder sechsten Lebensmonat verringert das Risiko anderer allergischer Erkrankungen deutlich.
Natürlich tritt dann der Impfschutz später ein. Das ist bei extrem seltenen Erkrankungen wie Tetanus, Diphtherie oder Kinderlähmung sicher kein relevantes Problem. Und eine Impfung gegen Hepatitis B können Sie locker in die Pubertät verschieben, wenn sie überhaupt nötig ist.
Viele Eltern in meiner Praxis entscheiden sich daher für die Fünffachimpfung – die ist nach wie vor verfügbar und besser verträglich, eben weil die Hep-B-Komponente fehlt. Unser ärztlicher Leitsatz lautet seit jeher: primum nil nocere.
esanum: Wie sollen Ärzte Eltern und zu impfende Personen aufklären? Es müsste für eine Beratung mindestens ein ausführliches Gespräch zu Reiseplanung, zur Kita-Situation und zum allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes geben, was mit Termindruck und Praxisalltag kaum vereinbar erscheint.
Rabe: Genau diese Punkte machen eine individuelle Impfentscheidung sinnvoll. Für jemanden, der weiß, dass er mit seinem Kind ins außereuropäische Ausland wie Afrika oder Asien reist, ist zum Beispiel eine Diphterie- oder Kinderlähmungs-Impfung deutlich dringender als für jemanden, der seine Urlaube in Deutschland verbringt.
Wir sind in Deutschland in der lächerlichen Situation, dass wir Ärzte keine Möglichkeit haben, eine Impfberatung abzurechnen, wenn wir nicht im Anschluss daran impfen. Dabei ist unzureichende Information eine der Hauptursachen für fehlende oder versäumte Impfungen.
In einer Impfberatung würden sich viele Fragen der Eltern klären lassen. Die Erfahrung zeigt, dass nach einem Gespräch die Entscheidung der Eltern in der Regel für eine Impfung ausfällt. Etwa 97 Prozent der Eltern lassen ihre Kinder beispielsweise gegen Masern impfen – ohne jede Zwangsmaßnahme wie eine Impfpflicht.
esanum: Wie gehen Sie selbst in Ihrer Praxis vor?
Rabe: Ich biete den Eltern eine Impfberatung an. Ich sage diesen, dass sie sich vorab die Informationen des Robert Koch-Instituts und dazu verlässliche Informationen impfkritischer Ansätze durchlesen sollen. Aus diesen Vorinformationen ergeben sich für Eltern Fragen, die sich in einem Gespräch von circa einer halben Stunde klären lassen. Die Eltern gehen dann aus dem Gespräch heraus mit dem Gefühl, jetzt können sie sich entscheiden. Das muss das Ziel unser Impfpolitik sein: eine verantwortungsvolle, individuelle Impfentscheidung informierter Eltern.
esanum: Es gibt Eltern, die beispielsweise keinen akademischen Hintergrund haben oder die sich nicht so ausführlich über Impfungen informieren wollen. Wie sollen die sich verhalten?
Rabe: Es heißt ja nicht, dass es eine individuelle Impfentscheidung geben muss. Wir haben die STIKO-Empfehlungen. Wenn Eltern sich nicht die Mühe machen wollen, sich selbst zu informieren, dann haben wir mit den STIKO-Empfehlungen eine Leitlinie, an der man sich orientieren kann.
Die STIKO-Empfehlungen sind jedoch nur eine Möglichkeit, unser Wissen und vor allem unser Unwissen über Impfungen zu interpretieren. In den 28 Staaten der EU gibt es nicht zwei gleiche Empfehlungen staatlicher Impfkommissionen. Daran sieht man, dass das Thema auch unter medizinischen Fachleuten sehr kontrovers diskutiert wird.
esanum: Gibt es eine zu enge Zusammenarbeit der STIKO-Mitglieder mit der Pharmaindustrie? Impfkritiker nennen das häufig als einen Grund für ihre Vorbehalte.
Rabe: Wir haben in der STIKO eine Reihe von Mitgliedern, die enge Verbindungen zu pharmazeutischen Impfstoffherstellern besitzen. Die STIKO veröffentlicht das inzwischen in Form einer Selbstauskunft. In den vergangenen Jahren sehe ich ernsthafte Bemühungen bei der STIKO, diese Interessenskonflikte nach internationalen Standards zu regulieren und zu veröffentlichen. Es wäre nur sinnvoll, eine STIKO zu haben, die Interessenskonflikte nicht erst regulieren muss, sondern die einfach keine hat. Davon sind wir leider weit entfernt.
Interessenskonflikte gibt es in der Medizin überall. Der Unterschied zwischen den STIKO-Empfehlungen, die den Status von Leitlinien besitzen, und anderen Leitlinien besteht darin, dass es sich bei Letzteren meist um therapeutische Maßnahmen handelt. Es gibt einen Leidensdruck bei den Patienten. Diesen gibt es bei Impfungen nicht. Die Anforderungen an die STIKO-Empfehlungen müssen deshalb noch höher sein, weil sie vorbeugende Maßnahmen umfassen, die potenziell Nebenwirkungen verursachen können, ohne dass Leidensdruck besteht.
esanum: Wie stehen Sie zu neueren STIKO-Empfehlungen wie der HPV-Impfung für Jungen, die Impfungen gegen Herpes Zoster oder FSME, die lediglich für bestimmte Ziel- oder Risikogruppen empfohlen werden?
Rabe: Die HPV-Impfung für Jungen halte ich für lächerlich. HPV ist für Jungen kein relevantes Risiko. Und es gibt Studien, die ernsthafte Zweifel anmelden, ob bei der HPV-Impfung überhaupt die behauptete Herdenimmunität entsteht.
Bei Herpes Zoster behandeln wir ein hausgemachtes Problem. Wir haben erst die Windpockenimpfung in Deutschland eingeführt. Diese führt dann dazu, dass über Jahrzehnte die Rate an Herpes-Zoster-Erkrankungen dramatisch steigen wird. Dazu gibt es entsprechende Modellierungen des Robert Koch-Instituts. Um diesen selbstgemachten Problemen gegenzusteuern, führen wir jetzt eine Herpes-Zoster-Impfung ein. Das ist eine Strategie, die unmittelbar aus dem Marketing der Impfstoffhersteller stammen könnte.
Die Diskussion zur FSME-Impfung habe ich in meiner Praxis in Bayern fast jeden Tag. Bayern ist beinahe flächendeckend ein Risikogebiet. Aber: es gab in Bayern im Jahr 2018 genau vier Fälle von FSME bei Kindern unter 14 Jahren. Mit dieser Information ist die Frage nach der FSME-Impfung bei Kindern meist abgeschlossen.
esanum: Wird In Deutschland zu viel und zu früh geimpft?
Rabe: Ja. Die skandinavischen Länder zum Beispiel haben differenziertere Leitlinien. Dort wird zum Beispiel einen Monat später mit den Impfungen begonnen. Auch empfehlen diese Länder etwa bei der 5- oder 6-fach-Impfung ein 2+1 Impfschema, während die STIKO am 3+1-Schema festhält. Das heißt, dass wir in Deutschland im Schnitt einmal mehr impfen. Diese zusätzliche Impfung kann man sich sparen – bei gleich guter Schutzwirkung.