"Die Nephrologen dürfen sich nicht abhängen lassen"

Die Digitalisierung hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert – und sie schreitet weiter voran. Gerade ÄrztInnen legen viel Hoffnung in das Potenzial neuer Technologien. Dass die Umsetzung trotzdem schleppend verläuft, legte Prof. Dr. Mark Dominik Alscher auf dem DGfN 2019 dar. Er ist Medizinischer Geschäftsführer des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses.

Nephrologie hat großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung

Die Digitalisierung hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert – und sie schreitet weiter voran. Gerade ÄrztInnen legen viel Hoffnung in das Potenzial neuer Technologien. Dass die Umsetzung trotzdem schleppend verläuft, legte Prof. Dr. Mark Dominik Alscher auf dem DGfN 2019 dar. Er ist Medizinischer Geschäftsführer des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses.

FreizeitsportlerInnen werten ihre Pulswerte über Apps aus, ForscherInnen testen Pflegeroboter für die Mobilisierung in der Orthopädie, und OnkologInnen hoffen, durch die Auswertung großer Datenmengen (Big Data) neuen Zusammenhängen zur Krebsentstehung und -therapie auf die Spur zu kommen – es steht außer Frage, dass die Digitalisierung die moderne Medizin entscheidend prägen wird. Trotzdem ist das Thema bei vielen ÄrztInnen noch nicht angekommen.

"Wir stellen immer wieder fest, dass im Regelfall andere Akteure – Politik, Patientinnen und Patienten, Kostenträger – mit mehr Energie auf dieses Thema setzen als die Ärzteschaft", sagt Alscher. "Kaum ein Arzt ist im Netz. Die Durchdringung der digitalen Lösungen ist oft schlecht." Die NephrologInnen seien in dieser Hinsicht zwar besser aufgestellt als andere Berufsgruppen, was er auf die Komplexität der zu behandelnden Erkrankungen zurückführt. Ausreichend sei das jedoch bei weitem nicht.

Zukunft gehört der Präzisionsmedizin

Denn die Zukunft wird nach seiner Ansicht der Präzisionsmedizin gehören, also individuellen Therapien, angepasst an die jeweiligen Phänotypen. Die ließen sich allerdings nur entwickeln, wenn das entsprechende Datenmaterial vorhanden sei. "Wir haben die traurige Situation, dass wir gerade in Deutschland zu wenig Aussagen treffen, die auf der Analyse großer Datenmengen, beispielsweise zu Dialysepatienten, beruhen."

Das Potenzial, das in den Informationen stecke, werde also nicht genutzt. Denn theoretisch wäre es bereits jetzt möglich, flächendeckend elektronische Patientenakten einzuführen und die Daten, anonymisiert natürlich, zusammenzuführen. "Dann könnte man Algorithmen entwickeln, um die Angaben auszuwerten." Eine Forderung, die sonst in erster Linie aus der Onkologie bekannt ist. Dort laufen bereits Pilotprojekte zum sogenannten Machine Learning, in denen Computerprogramme nach Mustern und Zusammenhängen suchen, auf die ein Arzt vielleicht gar nicht gekommen wäre. Daraus ließen sich unter Umständen neue Therapieoptionen ableiten. Alscher ist dabei wichtig: "Randomisierte Studien werden durch solche Methoden nicht abgelöst, sondern ergänzt." Für ihn ist klar: "Dieses Feld dürfen wir nicht allein den Onkologen überlassen."

Digitalisieren gegen den Fachärztemangel

Die Digitalisierung könnte aber noch mehr Vorteile mit sich bringen als neue Therapieansätze. Telemedizinische Anwendungen könnten sich zu einer wichtigen Ergänzung in der Betreuung der Patientinnen und Patienten entwickeln – und so den Fachärztemangel ausgleichen. In Pilotprojekten finden schon jetzt ärztliche Konsile über den Bildschirm statt und beispielsweise Parkinson-PatientInnen treten zu Hause vor eine Kamera, damit eine Ärztin oder ein Arzt in der Ferne die Entwicklung der Symptome einschätzen kann.

In der Nephrologie sieht Alscher unter anderem Potenzial für die Heimdialyse. Er fragt: "Ließe sich ein Verfahren wie die Peritonealdialyse durch Telemedizin unterstützen?" Das wäre vor allem wichtig in Regionen, in denen die ärztliche Versorgung schlecht ist. Laut dem Global Kidney Atlas beträfe das weltweit etwa zwei Drittel der Dialysepflichtigen. Hinzu kommt die demografische Entwicklung: "Telemedizin kann die Brücke sein, damit ich auch ältere, multimorbide Patientinnen und Patienten mit Heimverfahren betreuen kann." Tatsächlich werde aber gerade die Telemedizin derzeit von den meisten ÄrztInnen noch als Mehrbelastung empfunden.

Alschers Fazit ist daher eindeutig: "Die Nephrologen dürfen sich nicht abhängen lassen." Die Fachgemeinschaft stehe vor der Herausforderung, Telemedizin, die Auswertung von Big Data über Machine Learning und digitale Versorgungskonzepte zur Qualitätssicherung langfristig zu fördern.

Quelle:
Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie 2019, 11. Oktober 2019, Symposium „Digitale Medizin“