Deutschlands Intensiv- und Notfallmedizinerinnen und -mediziner kritisieren die Verlosung des in Europa noch nicht zugelassenen Novartis-Medikamentes Zolgensma an 100 Kleinkinder mit einer tödliche Muskelkrankheit scharf. Es geht um insgesamt 200 Millionen Euro. "Hier wird nicht nur das offizielle Zulassungsverfahren ausgehebelt, es wird auch mit der Hoffnung von Familien gespielt", sagt Professor Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). "Die Indikation zur Gabe eines Medikamentes stellt der Arzt, die Zustimmung erteilt der Patient oder der juristische Stellvertreter – aber nicht ein Pharmakonzern!" "Das Bundesgesundheitsministerium muss schnellstmöglich diese Lücken bei der Vergaberegelung schließen", so Janssens.
"Auch rund zwei Wochen nach Bekanntwerden dieser Medikamenten-Lotterie haben sich nur wenige offizielle Stellen zu den ethisch-moralischen Aspekten dieses fragwürdigen Vorgehens geäußert. Dabei muss diese Diskussion unter Experten und in der Gesellschaft jetzt stattfinden, damit das Los-Verfahren nicht zum Regelfall wird, um teure Medikamente auf den Markt zu bringen", sagt Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. "Es muss allen klar sein: Gesundheit ist kein Lotteriespiel!"
Betroffen sind Kinder unter zwei Jahren, die an spinaler Muskelatrophie (SMA) leiden. Der daraus resultierende Muskelschwund kann unbehandelt zum Tod führen. Mit dieser Erbkrankheit kommt etwa eines von 10.000 Neugeborenen zur Welt, in Deutschland betrifft dies pro Jahr circa 75 bis 80 Kleinkinder. Das neue Medikament Zolgensma soll helfen und dem Muskelabbau entgegenwirken. Dabei kostet jede einzelne Dosis rund zwei Millionen Euro. Der Schweizer Hersteller Novartis verlost aktuell 100 Dosen weltweit.
"Unsere Forderungen sind klar: Die begrenzt zur Verfügung stehende Substanz darf ausschließlich nach Bewertung durch ein Expertengremium vergeben werden, das den Prozess unabhängig von der Firma Novartis transparent überprüft und überwacht", sagt Jassens.
Dass die Teilnahme Deutschlands an der Verlosung überhaupt möglich wurde, liegt an der Zustimmung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) im Hessischen Langen zu einem von der Firma angezeigten Härtefallprogramm. Für die Kinder mit spinaler Muskelatrophie gibt es allerdings in der EU bereits seit 2017 das Arzneimittel Nusinersen der US-Pharmafirmen Ionis und Biogen.
"Wenn ein noch nicht zugelassenes Arzneimittel eingesetzt wird, müssen die Kriterien der Vergabe und des Einsatzes transparent und nachvollziehbar sein. Das ist eine wesentliche Voraussetzung, damit das Medikament in wissenschaftlichen, industrieunabhängigen Studien auf seine bessere Wirksamkeit und auf seine Sicherheit geprüft werden kann", betont Dr. Kathrin Knochel, Ärztin für klinische Ethik, Intensiv- und Palliativmedizin aus München sowie Mitglied der Sektion Ethik der DIVI. "Mit der Verlosung wird suggeriert, dass das Medikament allen Patienten helfen wird. So wird unkritisch und in aller Öffentlichkeit mit den Hoffnungen und dem Leid der Betroffenen gespielt."
Das Paul-Ehrlich-Institut ist das deutsche Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel – und gehört wiederum zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. "Hier kommt das Gesundheitsministerium in eine moralische Konfliktsituation: Es billigt mit der Zolgensma-Verlosung einen Verstoß gegen geübte Regeln zur Zulassung und Anwendung einer neuen medikamentösen Therapie. Gleichzeitig beschädigt das intransparente Verfahren von Novartis die medizinische Sorgfaltspflicht", sagt Axel Hübler, Sprecher der DIVI-Sektion Neonatologische Intensiv- und Notfallmedizin sowie Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendmedizin am Klinikum Chemnitz. "Dies gefährdet die Sicherheit der uns anvertrauten Patienten und ist für uns Ärzte nicht hinnehmbar!" Nach der Zufallsprinzip-Verteilung einer nicht zugelassenen Substanz sei nun die Pflicht des Bundesgesundheitsministeriums, die elementar verletzten ethischen und medizinischen Rahmenbedingungen wiederherzustellen.
Aus ethischen Gesichtspunkten ist diese Medikamenten-Lotterie nur auf den ersten Blick vertretbar: "Grundsätzlich stellt das Losverfahren eine Chancengleichheit zwischen allen Betroffenen her. Deshalb ist es ein ethisch durchaus begründbares Verfahren", bestätigt Dr. Gerald Neitzke vom Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. "Wenn eine Therapie nicht allen Betroffenen zur Verfügung steht, kann die Verlosung dazu beitragen, dass ohne Ansehen der Person entschieden wird." Aber: Aus medizinischer Sicht sei genau dieses Auswahlverfahren nicht unbedingt gerechtfertigt, ergänzt Neitzke, der auch Mitglied der DIVI-Sektion Ethik ist. "Uns Medizinern leuchten die Kriterien der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht eher ein – wie zum Beispiel bei der Vergabe von Spenderorganen."
Nun gelte im Falle der spinalen Muskelatrophie bei betroffenen Kindern aber: Je höher die Dringlichkeit, desto schlechter die Erfolgsaussichten. Heißt im Umkehrschluss: "Novartis muss sicherstellen, dass die zur Verlosung zugelassenen Kinder alle etwa gleich schwer betroffen sind und die gleiche Erfolgsaussicht haben. Nur dann erfüllt diese Lotterie des nur knapp verfügbaren Medikamentes alle Kriterien einer gleich fairen Zuteilung", sagt Neitzke. Nach welchen Kriterien die Auswahlkommission des Pharmakonzerns entscheide, sei aber für Außenstehende völlig intransparent.
Allein ein transparenter sowie unabhängiger Vergabeprozess rechtfertige nach Meinung der DIVI-Fachleute aber noch immer nicht das ethisch-moralisch fragwürdige Vorgehen von Novartis: "Die ethische Beurteilung dürfte auch davon abhängen, warum das Präparat nur derart begrenzt zur Verfügung steht", sagt Professor Gunnar Duttge, ebenfalls Mitglied der Ethik-Sektion der DIVI und Leiter der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen. Wurde die Zolgensma-Knappheit künstlich hergestellt? Diese Frage bleibt offen. So hätte Novartis nach Meinung der Intensiv- und NotfallmedizinerInnen beispielsweise auch die Dosis für 200 Kinder statt für nur 100 zur Verfügung stellen können. Der Konzern wiederum begründet die Verknappung mit der hohen Auslastung des herstellenden Werkes in den USA.
Auf dem amerikanischen Markt ist das Medikament bereits seit Mai 2019 zugelassen. Die DIVI befürchtet, dass die Verknappung offenbar gewollt ist und einem ökonomischen Kalkül folgt: Die Therapie soll etabliert und ihre Wirksamkeit öffentlichkeitswirksam dargestellt werden – um dann nach der Zulassung in Europa über die Verordnungen den Preis wieder einzuspielen. "Wie dieser Preis allerdings zustande kommt, ist völlig intransparent. Es überrascht zudem, dass ein börsennotiertes Wirtschaftsunternehmen zweihundert Millionen Euro für rein humanitäre Zwecke bereitstellt", sagt Privatdozent Dr. Axel Hübler.
Der ökonomische Antrieb von Novartis setze alle bisherigen Mechanismen einer fundierten und eingeübten Therapieverordnung außer Kraft, darin sind sich die Fachleute einig. Doch was passiert, wenn auch in anderen Bereichen der Medizin Menschen mit nicht heilbaren Erkrankungen oder mit schwersten chronischen Erkrankungen ähnliche Forderungen stellen – und Hoffnungen auf die Zuteilung eines teuren Medikamentes haben? Ist dann ein Auswahlverfahren zu befürchten, das Personen mit besseren Heilungschancen eher berücksichtigt als Schwerstkranke? "Aus rechtlicher Sicht spielen die Unterschiede hinsichtlich der Bedürftigkeit des Patienten doch eine Rolle. Sachbegründete Grenzkriterien wie die Schwere einer Erkrankung sind vorrangig gegenüber dem sachfernen Losverfahren. Sonst könnten wir ja ohne Weiteres auch Organe verlosen", so der Rechtswissenschaftler Gunnar Duttge.
Die Bedürftigkeit werde in unserer Rechtsordnung prioritär gegenüber der Erfolgsaussicht behandelt. "Das Bundesverfassungsgericht hat für die solidarische Finanzierung von Gesundheitsleistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung schon im Jahr 2005 die Anforderungen an eine Erfolgsträchtigkeit und auch Wirtschaftlichkeit erheblich herabgemindert – sofern Lebensgefahr besteht und nichts anderes zur Verfügung steht." Die Einteilung der Patientinnen und Patienten in Gruppen, die hoffnungslose Fälle von lebensrettendem Behandlungsversuch von vornherein ausschließt, werde aus rechtlicher Sicht stets als Ausnahmefall in Notsituationen verstanden – nicht als Maxime für die Regelversorgung. Dies gelte für Erwachsene genauso wie für Kleinkinder.
Die Vertreter der DIVI sehen die deutliche Gefahr, dass durch die Medikamenten-Verlosung öffentlicher Druck auf die Zulassungsbehörden in Europa ausgeübt werden könnte, um so die Preisvorstellungen des Pharmakonzerns durchzusetzen. "Wenn andere Konzerne diesem Beispiel folgen, dann stehen die Behörden zukünftig immer wieder vor der unmoralischen Entscheidung: Entweder wird den Betroffenen die nicht zugelassene Therapie vorenthalten – oder es wird jeder beliebige Preis bezahlt", sagt DIVI-Präsident Janssens. "Diese Situation wollen wir nicht. Die Medizin und das Gesundheitssystem dürfen nicht erpressbar werden."