Vermutlich hat jeder unter den fehlenden Kontakten während des Lockdowns gelitten. Aber Menschen, die aufgrund einer Suchtkrankheit regelmäßig sozialen Kontakt brauchen, waren besonders betroffen. Experten fürchten spürbare Rückfallquoten.
Der Verzicht auf Gruppentreffen während der Corona-Lockdowns in den vergangenen anderthalb Jahren hat Suchtkranke besonders hart getroffen. "Die Selbsthilfegruppen haben aus Hygienegründen einiges an Unterstützungsarbeit einstellen müssen", sagte Thomas Heinz, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor der Caritas-Fachkliniken St. Marienstift Neuenkirchen-Vörden und St. Vitus in Visbek (Landkreis Vechta). Für viele Menschen seien Online-Angebote keine Hilfe gewesen. Die Suchtkranken seien somit ebenfalls Opfer des Corona-Virus geworden.
Auch Tobias Trillmich von der Niedersächsischen Landesstelle für Suchtfragen (NLS) bestätigte, dass die Arbeit der Selbsthilfegruppen durch die Corona-Auflagen und die soziale Distanz in vielen Fällen nicht mehr möglich war. "Darunter haben natürlich vor allem die Menschen gelitten, die einen strukturierten Tagesablauf und regelmäßige Treffen mit anderen Menschen besonders dringend brauchen." Es sei zu vermuten, dass es viele Rückfälle gegeben habe. "Wenn jemand nur den ganzen Tag auf dem Bett liegen kann und an die Decke starrt, liegt es nahe, dass man zu den Dingen greift, die schon einmal situative Erleichterung gebracht haben, wie Alkohol und Drogen", sagte Trillmich.
Verlässliche Zahlen für Niedersachsen über den gestiegenen Konsum von Alkohol, Drogen oder Spielen aufgrund der Lockdowns gebe es noch nicht. "Genau werden wir es wohl erst in ein paar Jahren wissen", sagte Trillmich. Er verwies aber auf Studien, wonach seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen 37,4 Prozent der befragten Menschen mehr Alkohol trinken und 42,7 Prozent mehr rauchen. Eine länderübergreifende Studie (Global Drug Survey 2020) habe festgestellt, dass 43 Prozent der Menschen seit Beginn der Pandemie häufiger Alkohol trinken. Auch der Cannabis-Konsum ist demzufolge gestiegen. Langeweile, Stress und Ängste seien die Ursachen für die Anstiege.
Sorgen machen sowohl Heinz als auch Trillmich die Spielsüchtigen. "Der Abruf von Online-Glücksspielen, Sexdating-Seiten, das ist alles in den letzten anderthalb Jahren sukzessive durch die Decke gegangen", sagte Heinz. Beim Besuch von Spielhallen gebe es noch ein wenig soziale Kontrolle, und sei es nur, dass sie irgendwann einmal schließen. Bei Online-Spielen gebe es gar keine Hürden mehr.
Die Scham, Hilfsangebote wie Suchtberatungsstellen aufzusuchen, sei bei den Menschen hoch, sagte Trillmich. Nach wie vor werde Suchtkrankheit in der Gesellschaft tabuisiert. Bei Alkoholikern dauere es erfahrungsgemäß zehn bis zwölf Jahre, bis ein Betroffener Hilfe suche. "Es können aber auch Angehörige Beratungsstellen aufsuchen, und auch anonyme Beratungen sind möglich", betonte er. Je früher etwas gegen eine beginnende Sucht getan werde, umso schneller lasse sie sich bekämpfen. "Im Anfangsstadium sind vielleicht nur fünf Sitzungen notwendig, dann haben die Menschen das im Griff."
Besorgt äußerten sich beide Experten über den Fortbestand der Suchtberatungsstellen in Niedersachsen. Es sei zu befürchten, dass immer mehr Einrichtungen schließen müssten, sagte Heinz. Derzeit sei die Versorgungsstruktur mit 75 Hauptstellen in Niedersachsen groß, sagte Trillmich. "Aber die Suchtberatungsstellen in Niedersachsen brauchen eine Million Euro mehr." Der Bedarf an Beratung werde weiter steigen.
Laut NLS hat sich seit 2014 die Regelförderung der Suchtberatungsstellen in Niedersachsen durch das Land nicht verändert. Die fehlende Refinanzierung der stark gestiegenen Personal- und Sachkosten gefährde die Existenz vieler Beratungsstellen. In Niedersachsen gibt es dem Verband zufolge rund 700.000 suchtkranke Menschen.