Computerspielabhängigkeit soll als offizielle Erkrankung anerkannt werden. Eine Expertengruppe plädiert für die Aufnahme in die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11). 55 Autorinnen und Autoren aus nahezu allen Regionen der Welt legen die Gründe dafür in einer aktuellen Stellungnahme in der Zeitschrift "Journal of Behavioral Addictions" dar. Unter ihnen sind auch zahlreiche Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Die WHO hat "Gaming Disorder" (Computerspielsucht) in die Überarbeitung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen. In den vergangenen Monaten wurde vielfach darüber berichtet, dass diese Entscheidung ungerechtfertigt sei. Zu den Argumenten einer relativ kleinen Gruppe von Forschern gehörte, dass der Stand der Wissenschaft noch zu viele Lücken aufweise. Weiterhin bestünde die Gefahr, dass man unproblematische Computerspieler damit stigmatisieren würde. Exzessives Spielen sei keine eigenständige Erkrankung, sondern vielmehr eine Form der Bewältigung von anderen psychischen Problemen oder Störungen. Auch behauptete die Gruppe, dass die neue Diagnose eine Reaktion auf die moralisch gefärbte Panik sei, die dem Computerspielen entgegengebracht würde
In der nun veröffentlichten Gegenstellungnahme weist die Expertengruppe auf die klinische Bedeutung dieser Störung hin. Betroffene haben unter einer deutlichen und zum Teil sehr schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Lebens zu leiden. In vielen Ländern zeigen die Zahlen einen deutlichen Anstieg der Hilfesuchenden. Die Aufnahme diese Störungen in die ICD-11 sei eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass wirksame Behandlungsmethoden entwickelt, geprüft und finanziert würden, heißt es in der Veröffentlichung. Lücken in der Forschung dürften kein Grund dafür sein, eine Störung nicht als Krankheit anzuerkennen.
Die Stellungnahme weist darauf hin, dass viele der kritischen Autoren Wissenschaftler sind, die sich nicht mit Fragen der Behandlung oder Vorbeugung psychischer Erkrankungen beschäftigen. Stattdessen kommen sie aus Fachgebieten wie zum Beispiel Medienpsychologie, Kommunikationswissenschaften, Computerspieldesign, experimentelle Psychologie oder Erziehungswissenschaften. Damit sind sie im Grunde fachfremd im Hinblick auf klinische Notwendigkeiten oder Fragen der öffentlichen Gesundheit.
Dies zeige sich auch in ihren Argumenten, die an der klinischen Wirklichkeit vorbei gingen, beklagt die Stellungnahme. Ein Beispiel sei die Annahme, das Computerspielen sei lediglich Ausdruck einer anderen Störung wie einer Depression oder einer Angststörung. Dabei werde jedoch übersehen, dass auch bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit häufig eine andere psychische Erkrankung vorliegt und diese auch Auslöser der Sucht sein kann. Dennoch würde man ja nicht behaupten, Alkohol- und Drogenabhängigkeit wären keine eigenständigen und behandlungsbedürftigen Erkrankungen.
Entsprechende Einschätzungen hält die Expertengruppe der aktuellen Stellungnahme für potentiell sehr gefährlich. So könnten sich Krankenkassen oder andere Kostenträger auf deren vermeintlich wissenschaftliche Argumente berufen und die Kostenübernahme von Therapien verweigern. Auch die Computerspiele-Industrie könnte diese Argumente aufgreifen und diese für ihre Zwecke nutzen.
"In der Tat geschieht dies bereits. Es existiert eine gemeinschaftliche Stellungnahme zahlreicher Vereinigungen der Spieleindustrie, die das Ziel hat, die Aufnahme der Computerspielsucht in ICD-11 zu verhindern", sagt Privat-Dozent Dr. Hans-Jürgen Rumpf, Wissenschaftler an der Universität zu Lübeck, der an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, tätig ist. Er ist Erstautor der Stellungnahme und gehört seit 2014 zu den Experten, die die WHO in Bezug auf Verhaltenssüchte und deren Aufnahme in ICD-11 beraten.
Zum Argument der möglichen Stigmatisierung von unproblematischen Spielern führt er an, dass diese Befürchtung unbewiesen und irreführend ist. Das würde bedeuten, dass man im Gegenzug dann auch die Diagnose Alkoholabhängigkeit abschaffen müsse, weil unproblematische Alkoholkonsumenten dadurch stigmatisiert werden könnten.