Bei der Eröffnung des Hauptstadtkongresses 2019 gab man sich progressiv und zukunftsorientiert: Der unaufhaltsame Siegeszug der digitalen Revolution wurde nahezu euphorisch proklamiert. "Ehemals Unmögliches wird möglich", verkündete die Kongressleiterin Dr. Ingrid Völker bei Ihrer Begrüßungsrede, gefolgt von einer Aufzählung an Errungenschaften der modernen Medizin: Big Data Analysis, Künstliche Intelligenz, Robotik und telemedizinisches Monitoring wurden über den Köpfen der gut 1.500 Gäste als hoffnungstragende und heilsbringende Vision heraufbeschworen und Deutschland als "hochindustrialisiertes Land mit einer exzellenten Infrastruktur" und besten Voraussetzungen, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, herausgestellt. Der auf die Begrüßung folgende Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Roland Eils, Gründungsdirektor des BHI-Zentrums für Digitale Gesundheit des Berlin Institute of Health stand hierzu in amüsantem Kontrast.
"Ja. 'Die digitale Revolution in der Gesundheit ist jetzt auch in Deutschland angekommen'. Diesen Satz hören wir in etwa genau so häufig wie wir in den letzten zehn Jahren den Satz gehört haben 'Der Berliner Flughafen wird eröffnet'", waren die Worte, mit denen Eils seinen Vortrag begann. Die Digitalisierung sei mitnichten "made in Germany", so Eils, sondern Deutschland schaue hier noch bewundernd auf die europäischen Nachbarländer.
Eils Betrachtung des Status Quo zielte dabei besonders auf die folgenden Kritikpunkte:
In Deutschland fehle vor allen Dingen das Bekenntnis zu und die Umsetzung einer forschungskompatiblen Patientenakte. Die elektronische Patientenakte werde bereits seit fünfzehn Jahren diskutiert und sei noch immer nicht Realität. Im Rahmen der Hightech-Strategie wurde im September letzten Jahres beschlossen, dass eine solche forschungskompatible Patientenakte an allen deutschen Universitätskliniken bis zum Jahr 2025 verfügbar sein soll – die Gesetzeslage gebe dies jedoch bislang nicht her, bemängelt Eils und fordert zügige Nachbesserung. Gleiches gelte für die Zuständigkeiten in Bezug auf die Definition der Inhalte und Interoperabilitätsstandards sowie die noch fehlende europäische und internationale Compliance.
Die Kombination riesiger Mengen von Forschungs- und Versorgungsdaten mit Künstlicher Intelligenz (KI) kann auch jetzt schon für alle Akteure des Gesundheitsbereichs fruchtbringend eingesetzt werden. Beispielhaft hierfür stehen die bildgebenden Verfahren, die in der Radiologie und Pathologie bereits erfolgreich genutzt werden. Die Onkologie nimmt ebenfalls eine Vorreiterstellung ein, wenn es um technische Innovationen geht, hier ist vor allem die Genomsequenzierung zu nennen. Eine zweite Innovationswelle ist bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bei den neurologischen Krankheitsbildern zu erwarten.
Aus eigenen Studien berichtet Eils ebenfalls von enormen Erfolgen, die aus Analysedaten hervorgehen: Bei acht von zehn PatientInnen, die molekular charakterisiert werden, können mit Hilfe von validierten und zugelassenen klinischen Methoden und Werkzeugen genetische Veränderungen nachgewiesen werden, für die ein Medikament – möglicherweise auch Off-Label – zur Verfügung steht. Noch vor sieben Jahren, betont Eils, war Deutschland im "absoluten Niemandsland der Genomik" im Bereich der klinischen Anwendung und zählt heute zur Führungsspitze im internationalen Bereich. "Daten können Leben retten", schließt Eils seinen Vortrag, "wenn Sie uns nur diese Daten zugänglich machen und analysieren lassen".
Quelle: Hauptstadtkongress 2019, Eröffnungsveranstaltung