Seit 1. Juli 2021 ist am Universitätsklinikum Heidelberg das reguläre Neugeborenenscreening im Rahmen eines Pilotprojektes um zwei angeborene Erkrankungen, die Spinale Muskelatrophie (SMA) und die Sichelzellkrankheit, erweitert worden.
Für ein nur wenige Tage später geborenes Mädchen kam die Neuerung genau rechtzeitig: Der Bluttest zeigte, dass es an SMA, einer schnell fortschreitenden und genetisch bedingten Form des Muskelschwunds, litt. Im Alter von drei Wochen wurde es am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Heidelberg mittels Gentherapie behandelt, die den zugrundeliegenden genetischen Defekt ausgleicht. Das Mädchen hat die Therapie gut vertragen, ihre Muskeln bauen vorerst nicht weiter ab. "Ohne Behandlung wäre das Kind wahrscheinlich nur wenige Monate alt geworden. Dank Diagnostik in den ersten Lebenstagen und neuer Therapie kann es sich nun, abgesehen von einer verbleibenden motorischen Schwäche, in den nächsten Jahren voraussichtlich gesund entwickeln", sagt Professor Dr. Georg Friedrich Hoffmann, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin Heidelberg. In der Zwischenzeit wurden noch drei weitere Kinder mit SMA ebenso wie fünf Kinder mit Sichelzellenanämie entdeckt und behandelt.
Das Neugeborenenscreening sowohl auf SMA als auch auf die Sichelzellkrankheit wird am UKHD im Rahmen eines dreimonatigen Pilotprojektes angeboten, in das monatlich bis zu 9.000 Neugeborene aus Baden-Württemberg, dem Saarland, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen einbezogen werden. Bundesweit werden die beiden Krankheiten ab 1. Oktober in das reguläre Screening aufgenommen.
Das Pilotprojekt ist Teil eines größeren Projekts, das eine Ausweitung des Neugeborenenscreenings zum Ziel hat. Mit SMA und der Sichelzellkrankheit werden 28 zusätzliche Erkrankungen, überwiegend angeborene Stoffwechselstörungen, daraufhin untersucht, ob eine Aufnahme in das routinemäßige Screening umsetzbar und sinnvoll ist. Das bereits 2015 gestartete Langzeitprojekt wird von der Dietmar Hopp Stiftung bis 2025 mit insgesamt rund 1,6 Millionen Euro gefördert.
Im Dietmar-Hopp-Stoffwechselzentrum am Universitätsklinikum Heidelberg werden jährlich Proben von mehr als 140.000 Neugeborenen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Nordrhein-Westfalen auf aktuell 17 – mit SMA und Sichelzellkrankheit ab Oktober 2021 dann 19 – Krankheiten getestet. Unentdeckt können diese Krankheiten zu Organschäden, körperlicher oder geistiger Behinderung oder zum Tod führen. Etwa bei jedem tausendsten Kind wird eine Krankheit entdeckt und rechtzeitig behandelt. Im besten Fall gibt es ein Medikament gegen die jeweilige Erkrankung; anderen Betroffenen kann zum Beispiel durch eine lebenslange Diät geholfen werden.
Bei der in Heidelberg neu aufgenommenen SMA gibt es seit wenigen Jahren drei wirksame Therapien, die auf unterschiedliche Weise direkt an der genetischen Ursache der Erkrankung ansetzen. Bei der inzwischen an mehreren Zentren in Deutschland angebotene Gentherapie mit Zolgensma (Wirkstoff: Onasemnogen-Abeparvovec, Zulassung Europa: 2020) reicht voraussichtlich eine einmalige Behandlung aus, um den Muskelabbau zu stoppen. "Aus den Zulassungsstudien wissen wir, dass die Wirkung mindestens fünf Jahre, wahrscheinlich aber viel länger, anhält. Unbehandelt schreitet insbesondere die früh einsetzende Form der SMA rasant voran bis schließlich auch die Atemmuskulatur abbaut und die Kinder früh versterben", erläutert Dr. Andreas Ziegler, Oberarzt für Neuropädiatrie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin.
Die Sichelzellkrankheit ist eine in Ländern Afrikas und des Nahen Ostens häufig vorkommende Bluterkrankung. "In anderen europäischen Ländern und den USA, die Neugeborene zum Teil schon seit Jahrzehnten auf diese angeborene Bluterkrankung testen, ist die Sichelzellkrankheit inzwischen neben der Mukoviszidose eine der häufigsten Diagnosen des Neugeborenenscreenings", sagt Privatdozent Dr. Joachim Kunz, Oberarzt für pädiatrische Hämatologie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin. Ohne Behandlung leiden viele betroffene Kinder unter starken Schmerzen, bereits im Vorschulalter kann es zu Schlaganfällen und frühen Todesfällen kommen.