esanum: Herr Professor Dr. Klinker, wieviele unentdeckte HIV- und Hepatitisinfektionen gibt es in Deutschland?
Professor Dr. med. Hartwig Klinker – Leiter der Infektiologie der Medizinischen Klinik und Poliklinik II am Universitätsklinikum Würzburg
Klinker: Laut Statistiken des RKI gehen wir von derzeit ca. 13.000 unentdeckten HIV-Infektionen aus. Bei Hepatitis C ist das Zahlenmaterial etwas unsicherer. Es gibt ca. 300.000-400.000 bekannte chronische Hepatitis C-Infektionen. Die jährlich diagnostizierten 6.000 Neuinfektionen sind allerdings zumeist aufgedeckte Altinfektionen – woraus sich schließen lässt, dass auch hier noch einige 10.000 unentdeckte Infektionen “schlummern”.
esanum: Wie genau definiert sich die Grenze zwischen frühzeitig entdeckter Infektion und (zu) spät entdeckter Infektion mit dem HI- oder Hepatitis-Virus?
Klinker: Die Grenzen sind fließend, da die Viren ständig aktiv sind und über einen Zeitraum von Jahren stetig das Immunsystem beziehungsweise die Leber schädigen. Symptome und tatsächliche Organschädigungen treten individuell ganz unterschiedlich und vor allem zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf.
Bei uns in der Klinik stellen sich häufig so genannte “late presenter” vor, die viel zu spät und bereits mit schwer geschädigter Gesundheit identifiziert werden.
Es gilt: Je kürzer die Zeit zwischen stattgefundener Infektion und Aufdeckung – umso besser, da Organe und Immunsystem insgesamt noch gesund sind. Ein frühzeitig erfolgter Test ist sozusagen die Lebensversicherung des Patienten, denn wenn die Infektion rechtzeitig erkannt wird, kann er maximal von Behandlungsoptionen profitieren, da bei einem gesunden Patienten viel mehr und schonendere Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen.
Demgegenüber ist der Patient, bei dem die HIV-Infektion bereits fortgeschritten ist oder gar zum Krankheitsvollbild AIDS sich entwickelt hat, im Nachteil. Gründe hierfür sind zum Beispiel, dass das Virus über Jahre im Körper Resistenz-Mutationen gegen Medikamente entwickelt haben kann, bereits einzelne oder mehrere opportunistische Sekundärinfektionen vorliegen können, die ihrerseits behandelt werden müssen, Organe vorgeschädigt sein können usw. Die Verkettung solcher Umstände engt die therapeutischen Möglichkeiten ein und erhöht Unwägbarkeiten, die durch zum Beispiel Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten auftreten.
Hiervon abzugrenzen ist die Hepatitis C insofern, als dass sie seit dem Quantensprung, der mit den seit 2013 eingeführten Wirkstoffen (DAA = direct antiviral agent) erzielt werden konnte, definitiv heilbar ist (Heilungsrate von über 95 Prozent). Davor lag die Heilungsrate bei 50-70 Prozent mit ungleich schwereren Nebenwirkungen durch die verwendeten Medikamente.
Dennoch gilt auch hier: die durch fortgeschrittenen Infektionsverlauf bereits fibrotische oder zirrhotische Leber ist losgelöst von der eigentlichen Infektion und Heilung dieser zu betrachten. Der einmal angerichtete Schaden wird durch die erfolgreiche Viruseradikation ja nicht rückgängig gemacht. Dementsprechend ist das frühzeitige Erkennen und Behandeln der Infektion ausschlaggebend für den Erhalt der Gesundheit.
esanum: Was sind infektiologisch gesehen die Hauptunterschiede?
Klinker: HIV ist immer eine chronische Infektion, die unbehandelt bei ca. 95-97 Prozent der Patienten irgendwann ausbricht und mit schweren opportunistischen Infektionen und anderen Erkrankungen das Vollbild AIDS ergibt.
Die Hepatitis C hingegen wird “nur” in 50-80 Prozent der Fälle chronisch, die restlichen Infektionen heilen spontan aus. Von den chronisch Infizierten wiederum entwickeln “nur” ca. 20-30 Prozent die schwerste Folgeerkrankung, die Leberzirrhose.
esanum: Werden HIV- und Hepatitisinfektionen denn eher zufällig entdeckt oder liegen zumeist klare diagnostische Indikatoren oder sonstige medizinische Gründe vor?
Klinker: Zufällig entdeckt wird kaum jemand. Wir sprechen in der Mehrzahl von Menschen, die sehr wohl Risikosituationen erlebt haben, bei denen es aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zu einem Test gekommen ist. Hier spielen oft Ängste eine Rolle, vor der Krankheit und der Stigmatisierung nach der Offenbarung der Diagnose, weshalb viele nicht zum Arzt gehen. Selten hat ein Betroffener das Risiko gar nicht wahrgenommen.
Auf ärztlicher Seite gilt: Treten im Laufe der Jahre gewisse Symptome gehäuft auf, sollte das den behandelnden Arzt aufhorchen lassen sollte.
esanum: Beide Infektionen sind seit Jahrzehnten etablierte und weithin bekannte Gefahren für die menschliche Gesundheit. Warum sind Haus- und andere Ärzte offenbar trotzdem oft “arglos” den Symptomen gegenüber?
Klinker: Die Veränderungen des Immunsystems bei einer HIV-Infektion sind nicht immer so eindeutig: Harmlose Dellwarzen oder ein Seborrhoisches Ekzem können darauf hinweisen, aber auch Mundsoor oder, besonders charakteristisch, die Gürtelrose. Man sollte als Arzt immer kritisch nachfragen, woher solche Symptome rühren könnten, vor allem, wenn sie in einer auffälligen Häufung auftreten oder persistieren.
Bei vielen Ärzten bestehen solche Assoziationen hauptsächlich bei bekannten Risikogruppen wie homosexuellen Männern oder Drogenabhängigen. Wenn dahingehend allerdings kein “Verdacht” entsteht, wird das oft ausgeblendet.
Die ersten Anzeichen einer Leberschädigung sind demgegenüber diagnostisch eindeutiger festzustellen. Der Rückschluss auf eine Hepatitis-Infektion ist allerdings damit noch nicht gemacht.
esanum: Gibt es diagnostische Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Klinker: Obwohl es hier keine Zahlen gibt, darf man annehmen, dass der Allgemeinarzt in Berlin sicher überdurchschnittliche Kenntnisse zum Thema sexuell übertragbare Krankheiten mitbringt, wohingegen beispielsweise ein Landarzt im bayrischen Wald auf diesem Gebiet vielleicht individuelle Kenntnisse hat, die wohl aber eher als punktuelle Ausnahme zu betrachten sind.
esanum: Ist eine Infektion mit HIV oder Hepatitis immer noch ein “Männerthema”?
Klinker: In Deutschland sind ca. 70 Prozent der 3.500 jährlichen HIV-Neuinfektionen auf homosexuellen Risikogeschlechtsverkehr zurückzuführen. Das ist natürlich eine Mehrzahl der Fälle, dennoch gehören zu den verbleibenden 30 Prozent immer öfter auch Heterosexuelle, darunter auch Frauen. In diesem Sinne muss bei entsprechenden Anzeichen auch an vermeintliche Nichtrisikogruppen gedacht werden.
Statistisch gesehen liegt das Infektionsrisiko bei Sexualkontakten zwischen 0.5 – 1 Prozent, wobei das Übertragungsrisiko immer dann sprunghaft ansteigt, wenn Schleimhautverletzungen vorliegen. Bei Hepatitis C ist das Risiko einer heterosexuellen Übertragung geringer, hier spielen eher Drogenkonsumpraktiken, daneben häufig wechselnder Geschlechtsverkehr unter homosexuellen Männern eine Rolle.
esanum: Sehen Sie die aktuelle Entwicklung der Ansteckungsraten als besorgniserregend an?
Klinker: Hier ist im Vergleich zu den letzten 20 Jahren leider ein deutlicher Anstieg um über 30 Prozent zu verzeichnen. Das begründet sich dadurch, dass HIV nicht mehr automatisch als Todesurteil gesehen wird und es deshalb wieder zu mehr Risikoverhalten kommt – was allerdings dabei gerne übersehen wird ist, dass es damit auch zu einem ungleich höheren Anstieg von anderen sexuell leichter übertragbaren Krankheiten kommt.
Dazu gehören Syphilis, Chlamydien-Infektionen und Gonorrhö, die durchaus einen gesundheitsbedrohlichen Verlauf nehmen können.
esanum: Im Augenblick ist der HIV (und Hepatitis)-Test nur mit Einwilligung des Patienten erlaubt. Was halten Sie von dem Vorschlag, diesen zum Schutz des Klinikpersonals, zum Beispiel vor Operationen oder vor der Entbindung, verbindlich vorzuschreiben?
Klinker: Davon halte ich nichts. Eine flächendeckende Testung ist nicht angezeigt. Beide Infektionen gibt es bereits sehr lange – die Anzahl der dabei im Krankenhaus übertragenen Infektion ist demgegenüber gering.
Wenn wir das ins Verhältnis setzen zu der Vielzahl von täglichen Bagatellverletzungen muss man diesen Übertragungsweg schon als Rarität ansehen.
Wenn wir von einer Exposition sprechen, nehmen wir an, es kommt während einer OP zu einer Risikosituation durch Verletzungen, dann kann man einen solchen Test als sinnvoll ansehen. Dieses Risiko können Ärzte in der Regel auch gut einschätzen.
Bei einzelnen gibt es da gewisse Urängste, denen man nicht durch mehr Tests, sondern durch mehr Aufklärung beikommt. Da es auch eine postexpositionelle Prophylaxe gibt, sind Ärzte und medizinisches Personal hier gut abgesichert.