Der Wirkstoff hat die Umsatzgrenze für die vereinfachte Orphan-Drug-Bewertung überschritten. Vergleichende Studien gibt es nicht. Die ersatzweise durchgeführten Analysen sind ungeeignet für den Nachweis eines Zusatznutzens.
Der monoklonale Antikörper Lanadelumab ist seit 2015 in Europa als Langzeitprophylaxe zur Verhinderung von Anfällen beim hereditären Angioödem zugelassen. Da es sich um eine seltene Erkrankung handelt, musste der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Zusatznutzen zunächst qua Gesetz als gegeben annehmen – ohne Vergleich mit einer Behandlungsalternative. Nun hat der Wirkstoff die Umsatzgrenze von 50 Millionen € im Jahr überschritten, ab der ein Hersteller einen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie in einem regulären Verfahren nachweisen muss.
Daher hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des G-BA untersucht, ob eine Behandlung mit Lanadelumab zur routinemäßigen Prophylaxe von wiederkehrenden Attacken des hereditären Angioödems Patientinnen und Patienten ab 12 Jahren einen Zusatznutzen gegenüber einer Routineprophylaxe mit C1-Esterase-Inhibitor bietet. Das Fazit: Mangels geeigneter Studiendaten ist ein Zusatznutzen von Lanadelumab gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht belegt.
Das hereditäre Angioödem ist eine seltene Erbkrankheit, die auf einer Vielzahl von Mutationen beruhen kann und deren Symptome sich meist schon in der Kindheit oder Jugend zeigen: Immer wieder schwellen die Haut oder die Schleimhäute an, weil durch den Gendefekt zu wenig oder kein funktionsfähiger C1-Esterase-Inhibitor produziert wird. Dieser Hemmstoff verhindert bei Gesunden eine übermäßige Bildung des Peptids Bradykinin, das die Durchlässigkeit der Blutgefäße erhöht. So tritt zu viel Flüssigkeit aus den Adern in das Gewebe über und es kommt zum Angioödem. Insbesondere in den Atemwegen kann diese Schwellung lebensbedrohlich sein. Angioödeme in der Schleimhaut des Verdauungstrakts gehen mit starken Schmerzen und Verdauungsstörungen einher.
Neben einer Akuttherapie, die eine bereits erfolgte Attacke so schnell wie möglich beheben soll, kommt für Betroffene mit häufigen Attacken eine Langzeitprophylaxe infrage. Bislang wurden dafür Konzentrate des fehlenden Inhibitors in die Blutbahn gespritzt; seit 2020 gibt es auch ein subkutan zu verabreichendes Inhibitor-Konzentrat. Auch der monoklonale Antikörper Lanadelumab wird subkutan gespritzt. Er hemmt das Enzym Kallikrein, das wiederum an der Bradykinin-Herstellung beteiligt ist, und verhindert so eine Überproduktion von Bradykinin.
Obwohl der monoklonale Antikörper und der bereits seit vielen Jahren zur Langzeitprophylaxe eingesetzte C1-Esterase-Inhibitor vom selben Hersteller stammen, gibt es keine Studie, in der die beiden Wirkstoffe direkt miteinander verglichen werden. Für die Zulassung von Lanadelumab reichte eine placebokontrollierte Studie aus, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Lanadelumab-Armen weniger Attacken hatten als im Placebo-Arm. In der frühen Nutzenbewertung muss aber ein größerer Nutzen oder geringerer Schaden gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie nachgewiesen werden, die der G-BA festlegt. Daher versucht der Hersteller in seinem Dossier, individuelle Patientendaten aus drei Studien zu Lanadelumab und zum C1-Esterase-Inhibitor im Nachhinein zu vergleichen.
Im Studien-Akronym dieses retrospektiven Vergleichs, PATCH, klingt an, was er dabei versucht hat: eine "Korrektur" oder "Reparatur" des Umstands, dass man sich bei nicht randomisierten Vergleichen nicht sicher sein kann, ob alle relevanten Störgrößen (Confounder), die den Ausgang einer Intervention beeinflussen können, zufällig auf die Arme verteilt sind. Denn nur dann ist ein Vergleich fair. Dazu muss man zunächst alle relevanten Störgrößen wie den Gesundheitszustand der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Schwere ihrer Erkrankung oder die Art ihrer Vorbehandlung ermitteln. Kommen für beide Gruppen beide Therapien mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit in Frage (ausreichende Überlappung), nimmt man eine Adjustierung nach diesen relevanten Störgrößen vor.
Nur wenn die Überlappung ein vorab festgelegtes Ausmaß erreicht, kann man also die Daten aus den unterschiedlichen Studien bezüglich patientenrelevanter Endpunkte wie etwa der Zahl der Attacken vergleichen – und so beispielsweise einen Zusatznutzen ermitteln. Die Studie PATCH ist dafür jedoch nicht geeignet. Denn die Analyse der Überlappung zeigt, dass für die Gruppen die zu vergleichenden Therapien nicht mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit in Frage kamen. Die Strukturunterschiede zwischen den Gruppen sind für einen Ausgleich also per se zu gravierend. Zudem bleibt unklar, ob der Hersteller alle relevanten Confounder identifiziert hat. Und selbst zu den von ihm identifizierten Confoundern enthalten seine Datensätze nicht die für eine Adjustierung nötigen Angaben.
Das erkennt der Hersteller auch – und greift daher anschließend zu einer anderen Methode: einer Adjustierung mittels Regressionsanalyse. Diese Methode behebt das Grundproblem der massiven Strukturungleichheit jedoch nicht.
"Der Hersteller erkennt im ersten Schritt selbst, dass er offenbar Äpfel mit Birnen vergleicht. Doch statt daraus die notwendige Schlussfolgerung zu ziehen und die fehlende Eignung seiner Daten anzuerkennen, weicht er auf eine Methode aus, die aus Äpfel und Birnen scheinbar nur noch Obst macht", so Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG. "Dieses Beispiel zeigt einmal mehr: Der anfänglich festgestellte fiktive Zusatznutzen von Orphan Drugs ist bei genauer Betrachtung oft nicht haltbar. Es wäre daher zukünftig sinnvoll, auch solche Arzneimittel von Anfang an vollständig zu bewerten."