Opfer von Missbrauch müssen häufig mehrfach von ihren Leiden berichten. Dabei durchleben sie ihre Qualen wieder und wieder. Childhood-Häuser sollen das zumindest Kindern ersparen. Das zweite in Deutschland wird jetzt eröffnet.
Für missbrauchte oder misshandelte Kinder beginnt nach dem Ende ihres Martyriums oft ein Spießrutenlaufen: Bis zu sieben Mal müssen sie die erlebten Qualen schildern - bei der Polizei, Ärzteschaft, Psychologinnen und Psychologen, vor Gericht und bei der Jugendhilfe. Die Gefahr einer erneuten Traumatisierung ist hoch. Eine Anlaufstelle für alle Fragen fehlte nach Einschätzung von ExpertInnen bislang. Diese Lücke schließen will die Childhood-Stiftung von Schwedens Königin Silvia. Vor einem Jahr eröffnete die sozial engagierte Majestät in Leipzig die erste interdisziplinäre Versorgungseinheit für Kinder mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung in Deutschland. Am Donnerstag folgt ihre Geburtsstadt Heidelberg.
Dort vereint ein Gebäude des Universitätsklinikums Räume für Gericht und Polizei, Medizin, Kinder- und Jugendpsychologie sowie Kinderschutz und Jugendamt unter einem Dach. Nach dem Vorbild des skandinavischen "Barnahus" (Kinderhaus) soll in den Childhood-Häusern nicht mehr ausschließlich die Wahrheitsfindung, sondern das Wohlbefinden der betroffenen Kinder im Mittelpunkt stehen. In Deutschland waren im vergangenen Jahr 14.600 Kinder Opfer sexueller Gewalt, 4.200 von Misshandlung.
Die Gattin von König Carl XVI. Gustaf gründete 1999 die Childhood-Stiftung auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention. Die 75-Jährige sagt zu ihrer Motivation: "Als Mutter und Großmutter ist es mir auch ein sehr persönliches Anliegen, die Rechte der Kinder zu verteidigen und ihnen eine wirkliche Chance auf ein glückliches Leben zu schenken." Starke und selbstbewusste Kinder seien nicht nur glücklicher, sie würden später selber zu liebevollen Eltern werden.
Schon Erfahrungen gesammelt haben die MitarbeiterInnen des Childhood-Hauses in Leipzig. Dort hatten sie bislang mit 80 Fällen zu tun, von denen 12 in ein Ermittlungsverfahren mündeten, wie Matthias Bernhard, ärztlicher Leiter der interdisziplinären Kinderschutzgruppe, erzählt. "Der entscheidende Vorteil des neuen Konzepts ist, dass wir einen Ort haben, an dem die verschiedensten Beteiligten zusammenkommen und sich austauschen können." Zuvor habe es zu viele Stellen gegeben, die zu wenig voneinander wussten. Ziel sei, die Zahl der Befragungen auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu gebe es einen Raum, in dem das Kind befragt wird, während andere Beteiligte es durch einen einseitig durchsichtigen Spiegel beobachten und dem Befrager per Computer ihre Fragen schicken könnten.
Mehrere Befragungen durch nicht therapeutisch geschultes Personal können nach Bernhards Worten zu posttraumatischen Störungen führen - Schlaflosigkeit, Depression, Apathie, Bindungsunfähigkeit. Der Mediziner verweist auf Studien, nach denen die Folgen solcher Retraumatisierung einen volkswirtschaftlichen Schaden zwischen 11 und 30 Milliarden Euro jährlich verursachen.
Die Fälle werden von Jahr zu Jahr mehr, etwa zehn Prozent schätzt Bernhard. In diesem Jahr rechnet er sogar mit einer Steigerung von 20 Prozent, wobei die Zahl der ganz schlimmen Missbrauchsfälle - etwa eine Handvoll - nicht wachse. Als Grund für den Trend nennt er die verstärkte Aufmerksamkeit und die sozialen Medien, in denen Berichte über Missbrauchsfälle weite Kreise ziehen.
Über das Childhood-Haus sagt Bernhard: "Die Eltern nehmen das neue Angebot positiv an, und die Kinder fühlen sich ernst genommen." Auch Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, ist voll des Lobes für den Import aus Skandinavien. Neben Schweden setzt auch Island das Konzept um. Die Eröffnung des zweiten Childhood-Hauses sei ein wichtiger Meilenstein für kindgerechte Verfahren bei sexueller Gewalt. Im Gespräch ist ein solches Angebot auch in Berlin, Hamburg und Düsseldorf.
Rörig begrüßt das: "Es ist wichtig, nach der Aufdeckung von Missbrauchstaten eine kinderfreundliche Umgebung zu schaffen, in der Kinder unter einem Dach interdisziplinär begleitet und betreut werden." Auch im Missbrauchsfall Lügde wäre nach Meinung Rörigs ein so ausgestaltetes Verfahren für die Kinder und ihre Familien wünschenswert und äußerst hilfreich gewesen.