Vorrangiges gesundheitspolitisches Ziel der Bundesregierung ist es, die Corona-Pandemie zu überwinden und eine weitere Infektionswelle im Herbst zu vermeiden. Dazu sei eine allgemeine Impfpflicht notwendig, erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Donnerstagabend im Dialog mit den KBV-Vorständen Dr. Andreas Gassen, Dr. Stephan Hofmeister und Dr. Thomas Kriedel beim KBV-Praxischeck.
Deutschland müsse – anders als Dänemark, Frankreich oder Großbritannien – den Weg sehr vorsichtiger Lockerungen beschreiten, weil immer noch 2,3 Millionen Menschen über 60 Jahren überhaupt keinen Impfschutz haben. Das seien relativ vier- bis fünfmal so viele Ungeimpfte wie in anderen europäischen Ländern. Die Omikron-Variante verursache zwar eine um 75 Prozent niedrigere Mortalität im Vergleich zu Vorgänger-Varianten – angesichts der hohen Inzidenz liege die Zahl der an oder mit Covid gestorbenen Patienten bei über 200 täglich – "inakzeptabel", so Lauterbach.
Die Hoffnung, dass sich nun aufgrund des neuen Novavax-Impfstoffs mehr Menschen impfen ließen, werde sich kaum erfüllen. Querdenkern sei es gelungen, diese Hoffnung zu konterkarieren, stellte Lauterbach fest.
Wenig Hoffnung machte Lauterbach den Vertragsärzten, dass insbesondere das Engagement der Medizinischen Fachangestellten mit steuerbegünstigten Prämien honoriert wird. Dies müsse wegen der Haushaltseffekte stets mit dem Bundesfinanzminister verhandelt werden; dabei sei bislang die Priorität auf die Pflege gesetzt worden. Vor dem Hintergrund anderer Belastungen – erhöhter Bundeszuschuss zur Deckung der GKV-Finanzlücke und der zu erwartenden Herausforderung bei der Versorgung von Ukraine-Flüchtlingen – sieht Lauterbach ungeachtet der Leistungen der vertragsärztlichen Praxen und ihres Engagements bei den Impfkampagnen kaum Möglichkeiten einer Sonderhonorierung.
Er stellte allerdings praktische Erleichterungen in Aussicht: Insbesondere beim Moderna-Impfstoff seien kleinere Vials in der Entwicklung, die das Impf- und Terminmanagement in den Praxen vereinfachen und zu einem geringeren Verwurf von Vakzinen führen werden. Ferner sei auch eine Weiterentwicklung des Impfstoffs in Arbeit.
Weitreichende Pläne kündigte Lauterbach zur Sicherung der ärztlichen Versorgung an. Vor dem Hintergrund der dramatischen Alterung der Bevölkerung und als Folge wachsender Morbiditätslast sei eine Aufstockung der Medizinstudien-Kapazitäten um 5.000 pro Jahrgang erforderlich. Dies sei bei den Koalitionsverhandlungen auf Fachebene Konsens gewesen, habe aber wegen noch fehlender Einigung mit den Ländern nicht den Weg in den Koalitionsvertrag gefunden. “Das Thema bleibt aber auf dem Tisch”, so Lauterbach. Denn die Alternative werde eine “massive Unterversorgung“ sein, die kaum durch Rekrutierung von Ärzten aus dem Ausland vermieden werden könne.
Weiterhin notwendig sei eine Reform der Bedarfsplanung, mit der Krankenversicherungen mehr Spielräume zur Gründung KV-eigener Praxen in unterversorgten Regionen erhalten. Dies gelte auch für Psychotherapeuten. Denkbar sei, dass auch die Zahl der Psychotherapeutensitze in der Bedarfsplanung angehoben werde. Dies sei aber auch mit dem Risiko verbunden, dass Kassen wieder eine Budgetierung des Psychotherapeuten-Honorars fordern könnten. Geprüft werden müssten aber auch fehlerhafte Honoraranreize, die zu vergleichsweise langen Behandlungszeiten leichter und mittelschwerer psychischer Erkrankungen und zu einer Unterversorgung schwerer und chronischer Krankheitsverläufe führen könnten. Das BMG will dies mit verstärkten eigenen Personalressourcen bearbeiten.
Ferner soll der zunehmenden Ambulantisierung in der Weiterbildung Rechnung getragen werden. Auch aus qualitativen Gründen sieht Lauterbach die Notwendigkeit, wachsende Teile der fachärztlichen Weiterbildung in der ambulanten Versorgung zu ermöglichen und diese auch zu finanzieren.
Der unter seinem Vorgänger beschleunigte Digitalisierungsprozess wird einer gründlichen Revision unterzogen. Offenbar nicht marktreife Instrumente wie das eRezept und die eAU sind einstweilen gestoppt. Das neue Paradigma lautet: Jeder Digitalisierungsschritt muss einen qualitativen diagnostischen und therapeutischen Nutzen für Patient und Arzt haben, und er muss Ärzte bei ihrer Arbeit vor allem administrativ entlasten.
Das Hauptziel ist dabei die Schaffung einer echten und umfassenden elektronischen Patientenakte, die vor allem bei hochkomplexen Erkrankungen allen am Behandlungsprozess beteiligten Ärzten – auch für die Einholung von Zweitmeinungen – einen umfassenden Einblick in Befunde ermöglicht und die mit komfortablen zeitsparenden Suchfunktionen ausgestattet ist. Mit dem für die Digitalisierung zuständigen KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel ist sich Lauterbach einig darin, dass die gegenwärtig übliche “Formulardigitalisierung“ keine Lösung ist, sondern teils sogar zusätzliche Arbeit verursacht.
Ein weiterer Schwerpunkt werde es sei, die Krankenhaus-Informationssysteme mit den Praxisverwaltungs-Systemen der Vertragsärzte kompatibel zu machen. Die Hersteller dieser Software-Systeme sollen dabei eng eingebunden werden.
Es gibt noch zwei weitere gute Nachrichten für Ärzte: Paragraph 115b (ambulantes Operieren in Krankenhäusern) soll reformiert werden. Das Ziel ist, einheitliche Hybrid-DRGs für Vertragsärzte und Krankenhäuser zu schaffen, mit denen gleiche Leistungen identisch vergütet werden. Ferner plant Lauterbach die Einführung eines Dispensierrechts für Ärzte im Notfalldienst, um Patienten unmittelbar und ohne zeitraubenden Weg zur Apotheke mit Arzneimitteln zu versorgen.