Genetische Einflüsse spielen eine große Rolle bei der Entstehung einer Lese- und Rechtschreibstörung. Ein internationales Team von Wissenschaftlern hat jetzt ein weiteres Gen identifiziert, das in diesen Prozess involviert ist.
Die Legasthenie oder Lese- und Rechtschreibstörung ist eine der häufigsten Teilleistungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. Etwa 3,5 Millionen Legastheniker leben in Deutschland. Noch immer ist die Lese- und Rechtschreibstörung ein gesellschaftliches Tabu. Selbst in Schulen werden betroffene Kinder von Lehrkräften oft als dumm oder faul eingestuft und ihre eigentlichen Fähigkeiten nicht erkannt. Ein möglicher Grund: Legasthenie zeigt sich bei den Betroffenen in unterschiedlicher Ausprägung. Die Einen können schlechter schreiben, die anderen lesen.
Dabei sind Legastheniker nicht dümmer als andere Schüler. Unter ihnen liegt die gleiche Normalverteilung der Intelligenz vor wie bei den anderen Schülern auch, es gibt also weniger begabte, normal begabte und hochbegabte Kinder mit Legasthenie. Sie alle haben nur beim Erlernen der beiden Kulturtechniken Lesen und Schreiben größere Probleme. Dennoch leiden betroffene Kinder häufig unter Ausgrenzung und Stigmatisierung, etwa 40 Prozent von ihnen erkranken psychisch. Die Prognose zum Lebenslauf ist gut, wenn schulischer Nachteilsausgleich, schulische Förderung, therapeutische Hilfe und familiäre Unterstützung gewährleistet sind.
Dabei hätten molekulargenetische Untersuchungen längst gezeigt, dass genetische Einflüsse zweifellos eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie spielen, sagt Professor Tiemo Grimm. "Ist ein Kind in der Familie von einer Legasthenie betroffen, so sind in gut 40 Prozent der Fälle auch Geschwister oder ein Elternteil betroffen – oder beide". Grimm ist Humangenetiker und hat bis zu seiner Emeritierung am Institut für Humangenetik im Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) geforscht. Grimm ist selbst Legastheniker; Mitglieder seiner Familie sind ebenfalls betroffen.
Bisher sind über 20 verschiedene Gene beziehungsweise Genorte bekannt, die eine Rolle bei der Entstehung einer Legasthenie spielen. WissenschaftlerInnen der JMU und des Würzburger Universitätsklinikums haben gemeinsam mit WissenschaftlerInnen aus Forschungseinrichtungen in Deutschland und den USA in einer Familie, in der seit mehr als vier Generationen hinweg Legasthenie auftritt, einen neuen Genort auf Chromosom 4q28 nachgewiesen. "Bei den Betroffenen in dieser Familie wurde eine spezifische Nukleotidvariante in einer Sequenz des SPRY1-Gens gefunden, einem Gen, welches im Gehirn exprimiert wird", sagt Grimm. Diese Sequenzveränderung könnte die Expression des SPRY1-Genproduktes beeinflussen.
Eine direkte Konsequenz oder gar eine Therapie der Lese- und Rechtschreibschwäche ergibt sich aus diesem Forschungsergebnis allerdings nicht, sie liefert aber ein neues Puzzlestückchen für das Gesamtbild der Vorgänge im Gehirn. "Die Legasthenie entsteht in engem Zusammenhang mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems, wobei Besonderheiten der auditiven und der visuellen Informationsverarbeitung sowie wahrscheinlich auch der zeitlichen Vorgänge im zentralen Nervensystem eine Rolle spielen", sagt Grimm.
Bei etwa 60 bis 80 Prozent der Kinder mit Legasthenie bestehen Schwächen in der "phonologischen Bewusstheit" – also der Fähigkeit, lautliche Eigenschaften der Schriftsprache zu erkennen und zu gebrauchen, zum Beispiel die Fähigkeit, den Laut "u" vom Laut "o" zu unterscheiden. Von Schwierigkeiten der visuellen Informationsverarbeitung ist hingegen eine Minderheit der Kinder mit Legasthenie betroffen. Ihnen gelingt es in der Regel nicht, einzelne Buchstabenzeichen wie beispielsweise A – u – t - o zu dem Wort "Auto" zusammenzufügen, wenn sie es alleine mit den Augen versuchen, also lesen.