Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, hat am 10. Oktober in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung die neuen Corona-Maßnahmen der Bundesländer kritisiert und ihre Regelungswut als kontraproduktiv bei der Pandemiebekämpfung bezeichnet. Seine Aussagen stießen teils auf heftige Ablehnung. Ein Arzt aus Bremervörde fordert nun den Rücktritt von Gassen und eine klare Distanzierung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Landeskassenvereinigungen von dessen Aussagen.
"Ich fordere, dass Herr Gassen Konsequenzen aus seinem Handeln zieht und von seinem Posten bei der KBV zurücktritt. Die KBV und die Landes-KVen müssen klar machen, dass sie sich an Recht und Gesetz halten und konstruktiv in den Gremien ihre Vorschläge unterbreiten", sagt Marc Hanefeld, der eine Praxis für Familienmedizin betreibt in einer Stellungnahme, die er auf seinem Twitteraccount gepostet und sowohl an die KBV und LKV als auch an verschiedene Medien gesendet hat.
Gassen hatte in dem Interview unter anderem gesagt, dass er die Reisebeschränkungen für überflüssig hält und die Kontaktsperren und Alkoholverbote, die die Bundesländer im Hinblick auf die steigenden Zahlen von Coronainfizierten verhängt haben, als kontraproduktiv bezeichnet, weil dadurch die Akzeptanz der Bevölkerung für sinnvolle Maßnahme verloren gehen könnte. Selbst 10.000 Coronainfizierte täglich wären für Gassen kein Drama, wenn von 1000 Fällen nur einer schwer erkranke. Selbst bei 4000 Fällen pro Tag würden die 100.000 Arztpraxen nicht an ihre Grenzen stoßen und auch in den Krankenhäusern gebe es trotz steigender stationärer Coronafallzahlen keine Bettenknappheit.
Gassen hatte vorgeschlagen, die Grenze, nach der wieder schärfere Eindämmungsverordnungen erlassen werden, von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner auf 136 hochzusetzen, da die jetzige Regelung aus einer Zeit stamme, in der es 400.000 Tests statt wie heute mehr als eine Million gegeben habe. Heute gebe es mehr Test und weniger Menschen mit schweren Verläufen. Auch hatte Gassen gesagt, dass es für Familen kein Problem sei, Oma und Opa in den Herbstferien zu besuchen, wenn niemand Symptome zeige und sich alle an die Abstandsregeln halten würden. Er fände es verständlich, wenn auch Hochbetagte nicht auf den Kontakt zu Kinder und Enkelkindern verzichten wolle und sei es mit Maske auf dem Sofa.
Damit sieht Hanefeld seine und die Arbeit seiner Kollegin von Gassen als Vertreter aller Vertragsärzte nicht ernst genommen: "Der mit Nachdruck vorgetragene Impetus, dass alle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und deren Gefährdungspotenzial insgesamt völlig übertrieben seien, ist jedoch eine hochgefährliche Art der Kommunikation, die einer alle Vertragsärzte vertretenden öffentlichen Institution nicht zusteht." Gassen verschaffe mit seinen Aussagen denjenigen Auftrieb, die durch Miss- und Fehlinformationen sowie Verschwörungstheorien die Maßnahmen aller Akteure im Gesundheitswesen und der Politik zu untergraben versuchen.
Zudem fordert Hanefeld, dass die jenigen KollegInnen zur Rechenschaft gezogen werden, die in den eigenen Praxen die Hygiene-Regeln nicht einhalten und unberechtigte Atteste zum Nicht-Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ausstellen. "Ich selbst versuche seit Monaten in meiner Praxis und in der Öffentlichkeit, über die Pandemie aufzuklären und trete für Vernunft ein – so wie sehr viele KollegInnen auch", schreibt Hanefeld. "Es kann nicht sein, dass ein einzelner Repräsentant die kassenärztlichen Vereinigungen der Lächerlichkeit preisgibt."
Gassen solle solch ein empfindliches Thema nicht in einem Interview, sondern in Gesprächen mit den Gremien besprechen. "Gerade jetzt, nachdem erwartungsgemäß sich die Pandemie unter der Wahrnehmungsschwelle im Perkolations-Effekt ausbreitet und wir nicht wissen, wie die nächsten Wochen und Monate aussehen werden, benötigen wir besonnene und kluge Repräsentanten unseres Berufsstandes. Herr Gassen hat sich aus meiner Sicht dafür disqualifiziert."