Es gibt Patienten mit chronischen Erkrankungen, die selbst in einem gut ausgebauten Gesundheitssystem schwer zu erreichen sind: Arme und Ungebildete, Migranten und, ja auch, Jugendliche. Welche Mittel und Wege es gibt, zu solchen Gruppen mit rheumatoider Arthritis Zugang zu finden, war das Thema der Sitzung "Difficult to Reach Patient Groups" auf dem diesjährigen EULAR.
Alisa Bosworth, Leiterin der "National Rheumatoid Arthritis Society (NRAS)" in Großbritannien, berichtete von einer Umfrage in Schottland bei Erwachsenen mit RA. Die Ergebnisse zeigten schon bei "normalen" Patienten große Informationslücken über Ressourcen und Gesundheitsdienstleistungen, die in den Gemeinden angeboten werden:
89 % wussten nicht, wie sie Betreuung und Unterstützung durch lokale Einrichtungen bekommen könnten. Sie beklagten auch, zu wenig Informationen über solche Organisationen, über die Krankheit und über die Medikamente zu erhalten. Die meisten waren auf Hilfe durch Familie und Freunde angewiesen, äußerten aber den Wunsch, ihre Leben wieder selbständig gestalten zu können.
Bosworth forderte von den Gemeinden, den Zugang zu Informationen und zur Unterstützungsangeboten für Rheuma-Patienten zu erleichtern und sicherzustellen, dass die "Health Professionals" diese Menschen auch erreichen. Selbsthilfegruppen könnten Ärzte und Patienten bei dieser Aufgabe helfen.
Wie es der größten schwedischen Selbsthilfegruppe, der "Swedish Rheumatism Association (SRA)" gelang, Migranten in ihre Reihen zu integrieren, schilderte Tidiane Diao: "Nach dem Bosnien-Krieg 1990 und dem Irak-Krieg im Jahr 2000 kamen viele Flüchtlinge nach Schweden. Auch aktuell steigt ihre Zahl durch den Krieg in Syrien wieder stark an. Wir hatten festgestellt, dass sich unter den 60.000 Mitgliedern unserer Organisation nur sehr wenige Immigranten befanden und beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen".
Unter einer chronischen Krankheit zu leiden, ist vor allem für Frauen aus vielen Herkunftsländern ein Tabu. Sie sprechen nicht darüber, gehen nicht zum Arzt, nehmen keine Medikamente und weil die RA dadurch einen schweren Verlauf nimmt, sind sie in einem besonderen Maß betroffen. "Oft wissen sie gar nicht, dass sie Rheuma haben. Ihre Informationslücken sind immens", betonte Diao.
Um diese Menschen in die Selbsthilfeorganisation zu integrieren, wollte die SRA in mehreren Stufen vorgehen. Innerhalb von drei Jahren sollten 55 immigrierte Frauen intensiv über Rheuma aufgeklärt und über die SRA informiert werden. Diese Frauen sollten die Basis bilden zu einem Netzwerk für Einwanderer mit Rheuma (NIKE), das Hilfen für neue Mitglieder bereitstellen würde. NIKE sollte nicht nur das Wissen der Migranten über ihre Krankheit verbessern, sondern auch innerhalb des Selbsthilfevereins das Bewusstsein für die Einwanderer und ihre Bedürfnisse stärken.
Für das Experiment wurden 5 Bezirke in 5 Städten ausgewählt. Finanzielle Unterstützung erhielt die SRA vom schwedischen Erbschaftsfond und arbeitete mit lokalen Institutionen wie Bildungseinrichtungen, Arbeitsämtern und Gesundheitszentren zusammen. Informationsmaterial wurde erstellt, Anzeigen geschaltet und Artikel in der lokalen Presse platziert.
"Das Ergebnis war ein Durchbruch für die SRA", berichtete Diao erfreut. "Wir waren die erste Patientenorganisation, die diesen Weg beschritt. Das Leben der Frauen wurde grundlegend verändert. Sie verbreiteten ihr Wissen unter den Migranten und brachen das Tabu, das Rheuma betraf. Durch die Behandlung konnten viele von ihnen wieder eine Arbeitsstelle finden und sich trotz der Belastung durch die Krankheit als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft fühlen. Wir als Selbsthilfeorganisation konnten unser Wissen, wie man Migranten erreicht, enorm erweitern, viele neue Mitglieder aus der Minderheit aufnehmen, unseren Bekanntheitsgrad erhöhen und schließlich sogar einen Preis für das beste Projekt gewinnen."
Migranten und ihre Meinungen über Rheuma standen auch im Mittelpunkt des Vortrags von Dr. Kanta Kumar von der Universität Manchester. "Unsere Forschungen zeigten gravierende Unterschiede zwischen Patienten verschiedener ethnischer Gruppen und wie sie die Krankheit und ihre Medikamente einschätzten. Diese Sicht kann die Adhärenz und die Zufriedenheit der Patienten mit den Informationen, die sie von ihrem Arzt bekommen, nachhaltig beeinflussen."[1]
Kumar berichtete von einem nationalen Audit der britischen rheumatologischen Gesellschaft, der alle Dienstleistungen zur Rheumatologie in ganz Großbritannien erfasste. In dieser Untersuchung über die Behandlung der frühen RA waren Patienten bestimmter ethnischer Gruppen stärker von der Krankheit betroffen als andere.[2] Vor allem die älteren Menschen dieser (meist südasiatischen) Herkunftsländer litten mehr unter Funktionsverlust, Müdigkeit, psychischen und physischen Belastungen und konnten die Krankheit weniger gut bewältigen als einheimische Patienten. "Wir müssen lernen, die Bedürfnisse der Patienten vor ihrem ethnischen Hintergrund her zu verstehen. Dann können wir ihnen helfen, ihren Outcome zu verbessern", so das Fazit von Kumar.
Den Teufelskreis von fehlender Bildung, Armut und schlechtem Outcome bei Patienten mit rheumatoider Arthritis schilderte Dr. Michael Zänker vom Immanuel Klinikum Bernau in Brandenburg. Er gab einen Überblick über die Dimensionen der Armut und beschrieb die Methoden zur Beurteilung der Armutsrisiken bei Patienten mit rheumatoider Arthritis. Als arm gelten Personen, die monatlich weniger als 60 Prozent des nationalen Mittelwerts verdienen.
Um das Armutsrisiko und die Konsequenzen der Armut bei RA-Patienten zu erforschen sowie die Beziehungen zwischen Bildungsstand, dem sozioökonomischen Status und der Schwere der Krankheit zu ermitteln, führte Zänker eine Befragung bei ca. 882 Rheuma-Patienten aus Brandenburg und dem Saarland durch.[3] Es stellte sich heraus, dass über 27 % dieser Menschen durch ihre Krankheit von Armut bedroht sind. Personen mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem sozialen Status waren davon besonders betroffen. Viele Medikamente und Unterstützungsangebote werden von den Kassen nicht übernommen, die eingeschränkten körperlichen Funktionen führen zu Kündigung, häufigen Jobwechsel, Arbeitslosigkeit und Frührente. Die Folge: Das zum Leben verfügbare Einkommen von Rheumapatienten ist deutlich geringer als das der allgemeinen Bevölkerung.
"Patienten mit RA haben ein doppeltes Risiko für Armut, selbst in Sozialstaaten und gut situierten Ländern wie Deutschland", beklagte der Referent, "denn ein niedriger sozialer Status und ein niedriges Bildungsniveau sind auch mit einem schweren Krankheitsverlauf verbunden. Armut geht Hand in Hand mit Depressionen und Fatalismus, hohem Tabakkonsum und unzureichender Nutzung des Gesundheitssystems. Das aber verschlechtert wiederum die Krankheit und treibt den Circulus vitiosus von neuem an."
Eine wenig adhärente und schwierig zu erreichende Patientengruppe sind die jungen Rheumatiker mit juveniler idiopathischer Arthritis. "Das Alter zwischen 15 und 24 ist eine turbulente Periode, in der die jungen Leute für ihre Gesundheit selbst verantwortlich werden", erläuterte Dr. S. R. Stones aus Großbritannien, "daher ist es wichtig, ihnen Mittel an die Hand zu geben, mit denen sie ihre Krankheit selbst steuern können".
Stones beschrieb die Entstehung und Evaluation von "MyJIA", einer interaktiven App um Jugendliche mit juveniler idiopathischer Arthritis zu schulen, damit sie mit ihrer Krankheit leben und sie selbständig managen können.[4] Bei der Entwicklung der App waren viele fachkundige Personen und Institutionen beteiligt: Die Jugendlichen mit JIR selbst, ihre Eltern, Erwachsenen-Rheumatologen, Patientenorganisationen und Mitglieder der EULAR-Gruppe Young PARE. Drei Themenbereiche waren den jungen Leuten besonders wichtig: Die Inhalte, der praktische Nutzen und die Zugänglichkeit bzw. die Funktionalität.
Die erste Phase der App-Entwicklung sollte durch Literaturrecherchen die Inhalte identifizieren, Phase 2 das Design festlegen und die Technik programmieren. In der dritten Phase wurde die App schließlich durch Tests und quantitative und qualitative Methoden evaluiert. Bereits kurz nach Einführung von MyJIA stieg die Gesundheitskompetenz der jugendlichen Rheumatiker deutlich an. "Der Einsatz von innovativen Technologien wie interaktive Apps für das Smartphone kommen den Jugendlichen entgegen und können die Therapietreue wesentlich verbessern", so der abschließende Kommentar des britischen Rheumatologen.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf unserer Rheumatologie Fachbereichsseite.
Referenzen: [1] Kumar, K, Clinical Medicine 2010, Vol 10, No 4: 370–2
[2] Kumar K, et al, Rheumatology 2008; 1-8.
http://www.nras.org.uk/data/files/Help%20For%20You/Apni%20Jung/Kumar%20et%20al%20Beliefs%20paper.pdf
[3] Abstract M Zänker, EULAR 2017 SP0092 http://ard.bmj.com/content/76/Suppl_2/23.2
[4] S.R. Stones, Abstract EULAR 2017 Pare0013 http://ard.bmj.com/content/75/Suppl_2/1324.