Drei Säuglinge kommen innerhalb von zwölf Wochen in einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen mit einer Fehlbildung an der Hand zur Welt. Ob das Zufall ist oder alle Fälle eine gemeinsame Ursache haben, ist derzeit unklar.
Verdächtig, auffällig - mit diesen Worten beschreiben MedizinerInnen die Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen in einem Gelsenkirchener Krankenhaus. Drei Säuglinge wurden dort zwischen Mitte Juni und Anfang September mit fehlgebildeten Händen geboren. An jeweils einer Hand sind Handteller und Finger der Babys nur rudimentär angelegt.
Die Art der Fehlbildungen weckt Erinnerungen an den Contergan-Skandal der 1960er Jahre, den größten Arzneimittelskandal der Geschichte. Damals hatte ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das Schwangeren unter anderem gegen Übelkeit verordnet wurde, Fehlbildungen an den Gliedmaßen ausgelöst.
Bei den Gelsenkirchener Fällen ist die Ursache derzeit völlig unklar - es ist denkbar, dass die Häufung eine rein statistische ist. "Das mehrfache Auftreten jetzt mag auch eine zufällige Häufung sein. Wir finden jedoch den kurzen Zeitraum, in dem wir jetzt diese drei Fälle sehen, auffällig", schreibt das Sankt Marien-Hospital Buer in Gelsenkirchen in einer Mitteilung auf seiner Internetseite.
Fehlbildungen dieser Art habe man in der Klinik viele Jahre nicht gesehen. Extremitätenfehlbildungen könnten während der Schwangerschaft unter anderem durch Infektionen auftreten, seien insgesamt aber selten, schreibt das Hospital weiter. Der entscheidende Entwicklungszeitraum liege sehr früh in der Schwangerschaft, zwischen dem 24. und 36. Entwicklungstag nach der Befruchtung der Eizelle.
Ein erster Vergleich der betroffenen Familien ergab keinen Hinweis auf eine mögliche Ursache. Alle Familien wohnten demnach im lokalen Umfeld. Ethnische, kulturelle oder soziale Gemeinsamkeiten der Herkunftsfamilien habe man nicht feststellen können.
Die Gelsenkirchener Klinik will die Fälle jetzt in regionalen Qualitätszirkeln der Kinder- und Jugendärzte thematisieren. Auch habe man Kontakt mit Fachleuten der Berliner Charité aufgenommen. Von dort hieß es am Freitag: "Der derzeitige Informationsstand erlaubt weder der Charité noch insbesondere der Embryonaltoxikologie eine inhaltliche Stellungnahme zu diesem Thema." Der Deutsche Hebammenverband hatte am Freitag eine Stellungnahme ebenfalls abgelehnt.
Das NRW-Gesundheitsministerium will sich nun einen genaueren Überblick über die Situation verschaffen. Man werde alle Klinken in dem Bundesland abfragen, ob dort ähnliche Fehlbildungen aufgefallen seien, sagte eine Sprecherin der Düsseldorfer Behörde am Samstag auf Anfrage. Man nehme die Berichte über solche Fälle "sehr ernst". "Darüber hinaus nehmen wir Kontakt mit den Ärztekammern, dem Bund und den anderen Bundesländern auf, um möglichen Ursachen mit aller Sorgfalt nachzugehen."
Das Bundesgesundheitsministerium von Jens Spahn (CDU) hatte sich in einer ersten Stellungnahme zurückhaltend geäußert. Zu den konkreten Fällen lägen keine Erkenntnisse vor, teilte ein Ministeriumssprecher am Samstag in Berlin mit. "Wenn es eine auffällige Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen geben sollte, muss das so schnell wie möglich geklärt werden." Das Ministerium begrüße, dass das betroffene Krankenhaus Kontakt zur Berliner Charité aufgenommen habe.
Erschwert wird die Ursachenforschung dadurch, dass es kein bundesweites Register gibt, in dem Fehlbildungen systematisch und detailliert erfasst werden. Ob ein Melderegister der richtige Weg sei, gelte es gemeinsam zu prüfen, sagte die Sprecherin des nordrhein-westfälischen Landesministeriums, das von dem CDU-Politiker Karl-Josef Laumann (CDU) geführt wird.
Laut einer Bundesauswertung zur Perinatalstatistik des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) seien 2017 in Deutschland 6.884 Kinder mit Fehlbildungen in Krankenhäusern geboren worden, wie das Bundesministerium mitteilte. Das seien etwa 0,89 Prozent der Neugeborenen. Die Perinatalstatistik verzeichnet demnach allerdings nur die Zahl der mit Fehlbildungen geborenen Kinder - sie beinhaltet keine Informationen über die Art der Fehlbildung. Wie häufig die Extremitäten betroffen waren, lässt sich also nicht ermitteln.
Regionale Daten werden nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums für das Fehlbildungsregister Sachsen-Anhalt und das Geburtenregister "Mainzer Modell" erhoben. Daten aus beiden regionalen Registern würden an das europäische Register EUROCAT gemeldet, das seit 1979 bestehe und derzeit Daten aus 23 europäischen Ländern enthalte. In Sachsen-Anhalt gab es den Angaben zufolge im Jahr 2017 keine erhöhte Anzahl an Armfehlbildungen bei Neugeborenen. Das zuständige Ministerium hatte die Zahlen genannt, nachdem aus Frankreich ein Häufung von Armfehlbildungen bekannt geworden war. Im Verwaltungsbezirk Ain nordöstlich von Lyon wurden demnach zwischen 2000 und 2014 18 Babys mit eine Fehlbildungen der oberen Gliedmaßen geboren.
"Die Berichte über Fehlbildungen bei Säuglingen müssen wir ernst nehmen", erklärte Laumann laut einer Mitteilung. "Hierbei helfen allerdings keine Spekulationen. Vielmehr muss den möglichen Ursachen mit der gebotenen Sorgfalt nachgegangen werden."