Ein Start-up hat eine neue patientenorientierte Informations- und Meldeplattform für Neben- und Wechselwirkungen entwickelt, welche eine einfache, schnelle und sichere Kommunikation zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen zwischen Patient, Arzt und Hersteller in Echtzeit ermöglicht.
Wenn Patienten, die eine Nebenwirkung melden, ihren Arzt einbinden möchten, wird dieser darüber informiert und kann diese abschließend überprüfen. Er spart dabei viel Zeit im Vergleich zu herkömmlichen Meldewegen und erfährt sofort über mögliche Unverträglichkeiten seiner Patienten in strukturierter Form. Ärzte können sich auf der Website nebenwirkungen.de/aerzte auch selbst informieren. Das Meldesystem wird von öffentlichen Trägern unterstützt und ist rechtlich geprüft.
esanum fragt dazu Dr. Friderike Bruchmann, Gründerin und Geschäftsführerin von nebenwirkungen.de.
esanum: Frau Dr. Bruchmann, Sie haben eine Meldeplattform für Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten aufgebaut. Wie kam es zu der Idee?
Bruchmann: Das war vor fast drei Jahren. Während ich an der TU München promovierte, hatte ich sehr starke Nebenwirkungen durch ein Antibiotikum, das ich gegen eine Mandelentzündung nehmen musste. Auf dem Beipackzettel standen natürlich viele Nebenwirkungen, aber auch der Hinweis, dass man weitere Nebenwirkungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte melden kann. Das wollte ich auch tun, habe aber das Vorhaben schnell abgebrochen, weil das sehr umständlich und nicht nutzerfreundlich war. Das wirkte nicht wie ein Service, der von vielen Patienten genutzt wird. Dann habe ich nach anderen Möglichkeiten im Internet gesucht. Bis auf sehr intensiv genutzte Community-Plattformen und offizielle Behörden-Webseiten war nichts zu finden. Schnell habe ich gemerkt, dass heutzutage unter 1 Prozent aller Nebenwirkungen offiziell gemeldet werden, sogar bei schwerwiegenden Nebenwirkungen liegt die Meldequote bei nur 5 Prozent. Ich habe daraufhin mit verschiedenen Fachexperten aus der Industrie gesprochen, um zu verstehen, warum das derzeitige Meldesystem so wenig genutzt wird. Es stellte sich heraus, dass die bestehenden Meldewege historisch gewachsen und damit bürokratisch sowie zeitaufwendig sind, aber nicht auf die Bedürfnisse der einzelnen Nutzer eingehen. Daraufhin ist die Idee entstanden, eine innovative Meldeplattform zu entwickeln, welche genau diese Schwachstellen behebt.
esanum: Das Internet ist voll mit ungeprüften Erfahrungsberichten von Patienten. Was ist bei Ihnen anders?
Bruchmann: Wir sind keine Community-Plattform. Wenn dort jemand über Nebenwirkungen klagt, ist das keine Information, mit der ein Hersteller etwas anfangen kann. In der Regel braucht es dazu viel mehr Informationen, wie die Einnahme weiterer Medikamente oder ob weitere Erkrankungen vorliegen.
Eine Meldung, die bei uns eingeht, wird erstmal geschlossen, also nicht öffentlich, an den jeweiligen Hersteller weitergeleitet. Dieser hat dann die Möglichkeit, gezielt Rückfragen an den Patienten und an den Arzt zu stellen, falls letzterer das möchte. Das ist ungefähr bei jeder dritten Meldung der Fall und hilft eine Nebenwirkungsmeldung umfassend zu dokumentieren. Da der Hersteller gesetzlich verpflichtet ist, jeder Verdachtsmeldung nachzugehen, wird diese spätestens nach 90 Tagen (bei schwerwiegenden Fällen liegt die Zeitspanne bei 15 Tagen) an die europäische Behörde für Arzneimittelaufsicht weitergeleitet. Damit wird die Sicherheit eines Arzneimittels ständig überwacht und bei schweren Fällen können sofort Warnmeldungen rausgegeben, sowie Fachinformationen aktualisiert werden. Das Wichtige ist daher, dass Nebenwirkungsmeldungen schnell und direkt an den Hersteller weitergeleitet werden.
esanum: Was findet der User auf der Plattform vor?
Bruchmann: Wir sind das weltweit erste Meldesystem, das alle beteiligten Parteien in einem Zug integriert: Patienten, Ärzte, Apotheker und Hersteller. Für jede Nutzergruppe haben wir eine eigene Nutzeroberfläche entwickelt. Ärzte und Apotheker sollten - laut deren Berufsordnung - eigentlich diejenigen sein, die Nebenwirkungen melden. Faktisch ist es aber so, dass das kaum jemand macht, denn es ist ein sehr zeitaufwendiger Prozess. Keiner hat Lust, Formulare auszufüllen und dann Wochen später die gleichen Fragen wieder zu beantworten oder auch niemals zu erfahren, was aus einer Meldung geworden ist. Aber der betroffene Patient hat Interesse daran und ist auch in der Lage, diese Meldung zu machen. Der Patient wird bei uns mit gezielten Fragen durch den Meldeprozess geführt. Wir geben ihm quasi alle Tools an die Hand, dass er eigenständig seine Unverträglichkeiten melden kann. Dazu gehören fertige Arzneimittellisten, eine Auswahl der niedergelassenen Ärzte und Apotheker, ein Nebenwirkungsregister. Zusätzlich bieten wir dem Patienten an, seinen Arzt oder Apotheker im letzten Schritt der Meldung einzubinden. Diese können dann die Meldung einsehen und ergänzen. Außerdem liegt es auch in deren Interesse, sofort über mögliche Arzneimittelunverträglichkeiten ihrer Patienten informiert zu werden. Falls jetzt jemand Sorge hat, dass das bei jedem “Kopfschmerz” so sein sollte, den können wir beruhigen: Unsere Erfahrungswerte zeigen, dass der Arzt vor allem dann eingebunden wird, wenn es sich um schwerwiegendere Beschwerden handelt, solche, die länger andauern, oder wenn der Patient sich unsicher ist.
esanum: Was sind Ihre Informationsquellen? Werden die Angaben verifiziert?
Bruchmann: Unser medizinischer Expertenbeirat ist aus Ärzten und Wissenschaftlern entstanden, die seit Jahrzehnten im Bereich der Pharmakoepidemiologie und Arzneimittelsicherheit forschen. Jede Meldung, die von uns weitergeleitet wird, ist grundsätzlich valide. Es gibt eine Richtlinie für Good Clinical Practice, sie legt die Kriterien fest, die eine gültige Verdachtsmeldung enthalten muss. Diese haben wir in einem geführten und nutzerorientierten Meldeprozess umgesetzt.
Zudem sind wir eine Art Firewall, indem wir die Identität des Patienten, des Arztes und Apothekers besonders schützen. Jede Meldung bekommt eine einheitliche ID, über welche wir Rückfragen an den Patienten und Arzt seitens des Herstellers zuordnen können. Da niemand seine Identität preisgeben muss und wir die Rückfragen vorselektieren, ist hier die Rücklaufquote sehr hoch. All das trägt dazu bei, dass die Datenqualität und -grundlage für die Arzneimittelsicherheit sukzessive verbessert wird.
esanum: Handelt es sich um ein lernendes System?
Bruchmann: Derzeit noch nicht. Die Einbindung von künstlicher Intelligenz (KI) wäre zu diesem Zeitpunkt viel zu früh und der technische Reifegrad insgesamt braucht auch noch ein bisschen, ehe man sich darauf verlassen könnte.
esanum: Wer hat Sie unterstützt? War es schwer, Fördermittel zu bekommen? Oder sind Sie offene Türen eingerannt?
Bruchmann: Wir sind tatsächlich offene Türen eingerannt. Zum Beispiel beim Bundeswirtschaftsministerium mit dem Exist-Förderprogramm. Es gibt öffentliche Träger, die die enormen Defizite in der Arzneimittelsicherheit kennen und uns daher fördern. Und natürlich wurden unsere Förderanträge von den verschiedensten Experten aus der Industrie begutachtet. Seit Kurzem fördert uns auch die Europäische Kommission im Rahmen von “Horizon 2020” - nur 15 andere deutsche Unternehmen haben es in die erste Phase geschafft. Unser Ziel ist, das Meldesystem europaweit zu etablieren, perspektivisch auch weltweit.
esanum: Sie haben bereits jede Menge Innovationspreise eingesammelt. Wie sehen Ihre ersten praktischen Erfolge aus?
Bruchmann: Seit Januar sind wir online und bekommen jeden Tag mehrere Verdachtsfälle gemeldet. Wir werden bis Ende des Jahres mindestens so viele Fälle weiterleiten, wie das die jeweiligen Arzneimittelkommissionen in der Vergangenheit getan haben. Auch ist die Qualität unserer Meldungen gut und Falschmeldungen sind kein Thema. Dafür haben wir technisch einiges in die Wege geleitet, dass jede Meldung auf deren Echtheit und Einzigartigkeit überprüft wird. Die Reaktionszeiten der Hersteller sind inzwischen ebenfalls viel schneller geworden. Meist reagieren sie binnen 24 Stunden. Sie sehen, dass Patienten unsere Plattform gerne nutzen, weil es einfach und sehr schnell geht und wir patientenfreundlich auftreten. Das gibt dem Hersteller die Möglichkeit, die Fälle umfassend zu erfassen, da Rückfragen in über 80 Prozent der Fällen von Patienten beantwortet werden. Insgesamt werden wir von immer mehr Gesundheitsplayern unterstützt und erfreuen uns wachsender Beliebtheit.
esanum: Ihr Service ist kostenlos – wie verdienen Sie Geld?
Bruchmann: Im Moment leben wir noch von den Fördergeldern. Wir haben aber bereits viele Kooperationspartner gewonnen. Krankenkassen, Versicherungen – für die ist das ein superspannendes Thema, um das Risiko-Nutzenprofil von Arzneimitteln besser einschätzen zu können. Letztendlich möchten sie ihre Versicherten durch eine Stärkung der Arzneimittelsicherheit schützen. Auch Pharmahersteller sparen durch unser Meldesystem erheblich Zeit und Kosten im Vergleich zum herkömmlichen analogen Prozess, weshalb wir bei ihnen den Mehrwert schaffen wollen, für unseren digitalen Service zu zahlen. Über 90 Hersteller bearbeiten bereits die über uns weitergeleiteten Nebenwirkungsmeldungen. Dadurch, dass wir diese digitale Infrastruktur bauen und die Daten strukturiert sowie automatisiert weitergeben, könnten wir beispielsweise monatliche Lizenzgebühren erheben. Aber bis dahin haben wir noch einiges vor uns.