Corona-fixierte Medizin vergisst andere Pandemien – Diabetologen warnen. esanum spricht mit Prof. Dr. Baptist Gallwitz, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Er erklärt, warum er die Diabetesversorgung durch die Corona-Pandemie gefährdet sieht.
esanum: Herr Prof. Gallwitz, Sie machen sich Sorgen um die Diabetes-Patienten. Was genau ist die Gefahr?
Gallwitz: Die Gefahr ist, dass während der akuten Corona-Pandemie, eine andere, schleichende, stumme Pandemie vergessen wird. Ich meine die vielen Diabetes-Patienten, die wir nicht nur in Deutschland, sondern weltweit haben. In Deutschland haben wir 7 Millionen Erkrankte, mit einer Dunkelziffer von 1,3 Millionen. Diese sind derzeit nicht in gewohnter Weise betreut und können in ihrem Stoffwechsel nicht so gut gemanagt werden.
esanum: Warum eigentlich?
Gallwitz: In Krankenhäusern sind viele Ambulanzen geschlossen worden, um Personal in die Akutbereiche für COVID-19-Patienten umzuleiten und auch, um einen besseren Infektionsschutz zu haben. Auf der anderen Seite kommen viele Patienten nicht zu verabredeten Terminen. Sie bleiben lieber zu Hause, weil sie sich vor Ansteckung fürchten.
esanum: Lassen sich die Probleme bereits in Zahlen fassen? Kommt es etwa vermehrt zu Notfällen?
Gallwitz: Nein, mehr Notfälle gibt es nicht. Wenn Notfälle bei Diabetes stattfinden, heißt das, dass die Stoffwechsellage komplett entgleist. Eine schwere Unterzuckerung führt zu einer Krankenhausaufnahme, genauso ein viel zu hoher Blutzucker. Das sind sehr seltene Ereignisse. Und es liegen keine Daten vor, wie sich diese Notfälle in COVID-Zeiten entwickelt haben.
esanum: Ist also die sinkende Patientenzahl in den Diabetes-Praxen das einzige Indiz für eine Gefahr?
Gallwitz: Das ist allerdings ein sehr wichtiges Indiz und es gibt ein zweites: Der GBA hat die Vereinbarung für das Disease Management Programm und die damit verbundene Dokumentationspflicht über die Kontrolltermine bei Hausärzten und Diabetologischen Praxen ausgesetzt. Damit ist auch für Neuerkrankte das Schulungsangebot sehr eingeschränkt. Auch die Routinebesuche, die einmal pro Quartal vorgesehen sind, finden jetzt häufig nicht statt.
esanum: Wie wirkt sich das aus?
Gallwitz: Ein Beispiel. Wir hatten unsere Ambulanz drei Wochen komplett geschlossen, außer für Notfälle. In diesen drei Wochen haben wir nur sehr wenige Patienten gesehen.
esanum: Diabetiker gehören ja zu einer besonderen Risikogruppe unter den an COVID-19 Erkrankten. Müssen sie daher nicht ohnehin besonders beachtet und kontrolliert werden?
Gallwitz: Hier kann man nicht alle Diabetes-Patienten über einen Kamm scheren, es gibt ja unterschiedliche Diabetes-Typen. Junge Patienten mit Typ 1 Diabetes können ihre Stoffwechsellage meistens gut selbst managen. Sie sind bei normnahen Werten sicher keine Risikopatienten, sondern haben ein ähnliches Risiko wie andere mit chronischen Erkrankungen auch. Das ist ganz anders bei älteren Patienten mit Typ 2 Diabetes, die häufig aufgrund erblicher Risiken noch Begleiterkrankungen haben, wie zum Beispiel hohen Blutdruck, eine Fettstoffwechselstörung oder Gefäßkrankheiten. Das sind jene, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung haben. Es gibt erste Veröffentlichen aus China und Italien darüber, dass diese auch häufiger beatmet werden müssen.
esanum: Ist jetzt die leitliniengerechte Versorgung, die seit Jahren eingeübt ist, unter die Räder gekommen?
Gallwitz: Die regelmäßigen Vorsorge- und Checkup-Untersuchungen sind schon etwas unter die Räder gekommen. Wir hoffen, dass mit der Wiederöffnung der Krankenhausambulanzen und der Arztpraxen diese ungute Entwicklung rückgängig gemacht wird. Und wir ermutigen Patienten, Arztbesuche wieder wahrzunehmen.
esanum: Erhält denn jeder, der sich mit entsprechendem Bedarf oder Beschwerden meldet, die erforderliche Hilfe?
Gallwitz: Im Prinzip schon. Viele Diabetologen, Niedergelassene und auch Kliniken bieten Telefonsprechstunden oder telemedizinische Beratung an. Das ist eine gute Möglichkeit, die Stoffwechsellage zu besprechen, auch wenn man kein Blut abnehmen kann. Aber über die selbst gemessenen Blutzuckerwerte kann man Therapieanpassungen vornehmen.
esanum: Telemedizinische Schulungen für Diabetiker sind ja auch geplant. Was halten Sie davon?
Gallwitz: Bisher gibt es wenige zertifizierte Programme. Aber die Diabetesberatungsberufe sind dabei, das weiter zu entwickeln. Das wäre ein wichtiges Angebot für diese besonderen Zeiten.
esanum: Was schlagen Sie weiter vor, um die Situation für Diabetiker zu verbessern?
Gallwitz: Für Patienten ist es wichtig zu wissen, dass sie bessere Chancen haben, durch diese gefährliche Zeit zu kommen, wenn sie eine normnahe Einstellung ihres Diabetes haben, weil dann das Infektionsrisiko geringer ist. Denn bei einer Stoffwechselentgleisung mit ständig erhöhten Blutzuckerwerten funktioniert die körpereigene Immunabwehr nicht gut. Und auch im Fall einer Virusinfektion kann dann leicht eine weitere Infektion mit Bakterien oder Pilzen hinzukommen – was dann wiederum das Immunsystem weiter schwächt.
esanum: Der Patient ist also selbst in der Rolle, Hilfe einzufordern und sie sich zu holen?
Gallwitz: Das ist richtig. Das ist bei Diabetes per se so, aber gerade in dieser Zeit sollte jeder besonders darauf achten und die Stoffwechselkontrolle im Blick haben. Hinzu kommt, dass durch die Ausgangseinschränkungen sich viele nicht mehr wie sonst bewegen oder Sport machen. Das verändert die Stoffwechsellage unter Umständen auch.
esanum: Ist der interdisziplinäre Ansatz, die Zusammenarbeit mit allen Ärzten, die mit COVID-19 zu tun bekommen, ein Gebot der Stunde?
Gallwitz: Natürlich, das ist auch gewährleistet, auch zwischen niedergelassenen und den Krankenhäusern. Wichtig ist, dass alle Informationen über den Patienten gut übergeben werden. Bei einer Krankenhausaufnahme wegen COVID-19 muss der Diabetes engmaschig überwacht werden. Oft ist bei einer akuten Infektion eine Umstellung auf eine Insulintherapie notwendig, auch bei den Patienten mit Typ 2 Diabetes, die vorher Tabletten genommen haben. Das wird nach Überwindung der Infektion wieder zurück umgestellt. Die Deutsche Diabetesgesellschaft hat Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Diabetes bei einer Corona-Infektion herausgegeben, und diese auch auf der Website der DDG veröffentlicht.
esanum: Corona wird uns ja nicht so einfach wieder loslassen. Wie soll es nun für Diabetiker und Diabetologen nun weitergehen? Was wünschen Sie sich für Ihre Zunft und Ihre Patienten für die nächste Zukunft?
Gallwitz: Ich wünsche mir, dass chronische Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck und Gefäßerkrankungen über der akuten Corona-Situation nicht in Vergessenheit geraten und dass sich die Versorgungslage wieder bessert. Ich sehe da eine Chance in digitalen Angeboten. Und ich wünsche mir, dass die Gesundheitsversorgung in Deutschland mindestens so gut bleibt wie sie ist, sodass jeder chronisch Erkrankte ein gutes Versorgungsangebot bei den Niedergelassenen und im Krankenhaus hat.
esanum: Ist Ihr Aufschrei in einer Pressemitteilung aus der letzten Woche, die Diabetesversorgung sei in Gefahr, damit relativiert?
Gallwitz: Nein. Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es neben Corona auch weiterhin chronische Erkrankungen gibt. Und wir stehen weiter kollegial dafür ein, dass wieder eine geordnete und breite Versorgung stattfindet.