Damit ein Lebewesen wie Maus oder Mensch überhaupt Wärme wahrnehmen kann, braucht es Informationen aus einer überraschenden Quelle: den Kälterezeptoren – eine paradoxe Situation kurz erklärt.
Ein Team aus NeurowissenschaftlerInnen am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat eine überraschende Entdeckung zum Wärmeempfinden von Mäusen gemacht. Auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich: Die Kälterezeptoren in der Haut spielen beim Wärmeempfinden eine entscheidende Rolle.
Die veröffentlichten Erkenntnisse stellen das vorherrschende Bild über die Wahrnehmung nicht schmerzhafter Temperaturen in Frage und liefern Hinweise darauf, wie nicht nur Mäuse, sondern auch der Mensch Wärme bewusst wahrnehmen.
"Wenn wir eine Tasse Kaffee mit den Händen greifen und augenblicklich deren Wärme spüren, geschieht dies nicht nur unter Beteiligung von Nervenzellen, die durch Wärme aktiviert werden, sondern auch durch solche, die durch Wärme deaktiviert werden", berichtete Ricardo Paricio-Montesinos, Co-Erstautor und Neurowissenschaftler am MDC: "Ohne diesen zweiten Nervenzelltyp würden wir entweder viel länger brauchen, bis wir die Wärme spüren, oder wir würden die Wärme überhaupt nicht wahrnehmen. Das haben unsere Daten aus Versuchen mit Mäusen ergeben."
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ging die Neurowissenschaft davon aus, dass spezielle Signalwege oder "Labeled Lines" entweder nur Wärme- oder nur Kältereize von der Haut zum Gehirn weiterleiten. Obwohl beim Menschen und bei Primaten einiges dafür sprach, konnte kein stichhaltiger Nachweis erbracht werden – offensichtlich, weil diese Theorie in Teilen falsch war?
Professor Gary Lewin, Leiter der Forschungsgruppe Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung am MDC, und Dr. James Poulet, Leiter der Forschungsgruppe Neuronale Schaltkreise und Verhalten am MDC, haben nun gemeinsam die Wahrnehmung nicht schmerzhafter Temperaturen bei Mäusen untersucht. "Das Temperaturempfinden gibt uns immer noch Rätsel auf", sagte Poulet: "Insbesondere im Gegensatz zum Seh-, Tast- und Hörsinn ist diese Wahrnehmung noch sehr unerforscht."
Die Fähigkeit von Mäusen, leichte Temperaturveränderungen wahrzunehmen, war bisher nicht näher untersucht worden. Durch eine Reihe von Verhaltensstudien entdeckten die Forschenden, dass die Fähigkeit, Temperaturveränderungen wahrzunehmen, bei Mäusen genauso gut entwickelt ist wie beim Menschen. So begannen die Mäuse, bei einer Erwärmung um 1°C und bei einer Abkühlung um 0,5°C an einem Wasserspender zu lecken. "Erstmals konnten wir beweisen, dass Mäuse Wärme und Kälte grundsätzlich genauso wahrnehmen wie wir", berichtete Lewin: "Die Schwellenwerte sind mit denen des Menschen identisch."
Auch als neuronale Signalwege blockiert wurden, bei denen die Forschung bisher davon ausging, dass sie mit dem Wärmeempfinden in Verbindung stehen, begannen die Mäuse bei einer Temperaturerhöhung um 2°C, am Wasserspender zu lecken. Die Wahrnehmung war also reduziert, aber nicht völlig ausgeschaltet. Daraus lässt sich schließen, dass diese Signalwege für das Wärmeempfinden zwar hilfreich, aber nicht zwingend erforderlich sind. Als die mit Abkühlung assoziierten Signalwege durch Ausschalten des Gens trmp8 blockiert wurden, konnten die Mäuse hingegen überhaupt keine Wärme wahrnehmen.
"Wir waren völlig überrascht", berichtete Dr. Frederick Schwaller, Co-Erstautor und Postdoktorand in der Forschungsgruppe Lewin.: "Wir hatten die Mäuse eigentlich auf das Wahrnehmen von Hauterwärmung trainiert, um auf diese Weise Kontrollwerte zu erhalten. Doch dann sind wir damit zufällig auf die wichtigste Erkenntnis der Studie gestoßen."
Bei näherer Analyse der Nervenzellen in der Vorderpfote konnten die Forschenden zwei Dinge beobachten: Erstens gab es keine Nervenzellen, die ausschließlich auf Erwärmung reagierten. Stattdessen sendeten die meisten Nervenzellen ein elektrisches Signal infolge von Temperatur- und stumpfen Druckreizen.
"Das war einfach verblüffend", so Lewin weiter: "Woran erkennt dann das Nervensystem, ob die Nervenzelle durch Wärme, Kälte oder mechanischer Einwirkung aktiviert wurde?" Die Antwort liegt in der zweiten Entdeckung, die das Team machte – einer Gruppe von Nervenzellen, die bei einer Normaltemperatur von 27°C in der Vorderpfote ständig Signale sendete. Wenn die Temperatur stieg, fuhren diese Zellen ihre Aktivität herunter. Und genau hier liegt der Schlüssel zu einer Antwort.
Das Team geht davon aus, dass die Maus Wärme erkennen kann, weil eine Gruppe von Nervenzellen ihre Aktivität erhöht, während die Nervenzellen für Kälte ihre Aktivität verringern. Zwei Signale in entgegengesetzter Richtung erzeugen ein Muster, das dem Gehirn "Wärme" vermittelt. Anders ist es bei einer Abkühlung: Hier ist die Aktivität bei allen Nervenzellen erhöht, sodass ein gleich gerichtetes Muster entsteht. "Durch den Einsatz zweier Gruppen von Nervenzellen kann die Maus viel leichter eindeutig feststellen, ob die Temperatur steigt oder sinkt", schätzte Lewin die Ergebnisse ein.
Als die Signalwege für Abkühlung blockiert wurden, blieben die Kältezellen still und sendeten keine Signale mehr an das Gehirn. Aufgrund des nun ausbleibenden entgegengesetzten Signalmusters konnten die Mäuse keine Wärme wahrnehmen, so die Schlussfolgerung der Forschenden.
Die WissenschaftlerInnen gehen nun davon aus, dass die Sinneswahrnehmungen der Maus Rückschlüsse auf den Menschen zulassen. Schließlich verfügen wir über dieselben Rezeptoren und Nerven, die Informationen von der Haut zum Rückenmark und zum Gehirn weiterleiten. Um ein identisches Muster beim Menschen nachzuweisen und herauszufinden, wo und ob die Signale im Gehirn oder Rückenmark verglichen werden, sind jedoch weitere Studien erforderlich.