Das "Tagesspiegel Fachforum Gesundheit 2021" gab unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren des Gesundheitswesens ebenso wie Betroffenen die Möglichkeit zum Austausch rund um das Thema Seltene Erkrankungen. Unter der Leitung von Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff kamen Dr. Christine Mundlos, stellvertretende Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V., Prof. Dr. Christopher Baum, Vorsitzender des Direktoriums am Berlin Institute of Health (BIH), Heidrun Irschik-Hadjieff, Geschäftsführerin von Takeda Pharma, Prof. Dr. Christoph Klein, Direktor der Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Prof. Dr. Claudia Schmidtke, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, und Dr. Axel Lankenau, Vorsitzender von PCH-Familie e.V., zu Wort. Rund 90 Minuten sprachen die Beteiligten über Patientenwünsche, medizinische und medikamentöse Fortschritte in den vergangenen 20 Jahren, über die Inklusion von Patientinnen und Patienten in die klinische Forschung sowie die sinnvolle und nachvollziehbare Nutzung von Open Data und Big Data.
Zu Beginn des virtuellen Forums kommt mit Dr. Axel Lankenau ein Teilnehmer zu Wort, der selbst unmittelbar von Seltenen Erkrankungen betroffen ist: Seine beiden Söhne, Jonas und Felix, leiden an Pontozerebellärer Hypoplasie Typ 2 (PCH2), wobei Teile des Hirns zu klein angelegt sind. Pro 1.000.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist ein Kind von der Krankheit betroffen. Lankenau ist Vorstand der PCH-Familie, unter der sich 60 Familien miteinander vernetzt haben, die gemeinsam viele helfende Off-Label-Medikamente identifizieren konnten. Dass sein älterer Sohn, Jonas, inzwischen das Alter von 15 Jahren erreicht hat, ist für ihn deutlicher Beleg eines medizinischen Fortschrittes. Seine Kinder könnten auch anderen PCH2-Betroffenen den Weg aufzeigen. Lankenau merkt an: "PCH2-Kinder können auch lachen." Sein Appell an Medizin und Forschung: Seltene Krankheiten sollten nicht vergessen werden. Rare Diseases sollten häufiger als Chancen, nicht als Risiken betrachtet werden.
Prof. Klein und Frau Irschik-Hadjieff stimmen überein, dass gerade in der medizinischen Forschung ein stärkerer Schwerpunkt auf Seltene Erkrankungen gerichtet werden sollte. Betroffene könnten die Pioniere einer personalisierten medizinischen Ära darstellen, durch ihre Einbindung zur medizinischen Aufklärung beitragen und den Diagnosezeitraum für andere Betroffene verkürzen. "Engagement lohnt sich doppelt", äußert sich Irschik-Hadjieff. Einen Grund zur medizinischen Hoffnung für Erkrankte gäbe es unter anderem durch die Fortschritte im Bereich der Genomeditierung, merkt Prof. Klein an. Auch Prof. Mundlos stimmt zu, dass in der Forschung zu Rare Diseases Patientenpartizipation gelebt werden sollte. Viele Betroffene hätten großes Interesse, sich in die Forschung einzubringen. Dieser Wille zur Teilnahme sollte auch genutzt werden.
Prof. Baum sieht eine große Chance und Hoffnung für die Behandlung Seltener Erkrankungen in der interdisziplinären, fächerübergreifenden und internationalen Forschung. Das Projekt CORD-MI (Collaboration on Rare Diseases) habe zum Beispiel dazu geführt, dass sich 20 Unikliniken und weitere Partner deutschlandweit zusammengeschlossen haben, um die Patientenversorgung sowie die Forschung im Bereich der Seltenen Erkrankungen zu verbessern. Prof. Mundlos stimmt zu, kluge Vernetzungen, wie beispielsweise auch der Austausch über europäische Referenznetzwerke, seien ungemein wichtig. Elementar sei es aber auch, Patientinnen und Patienten gut über die Nutzung ihrer Daten aufzuklären: "Technik ist nicht alles." Sinnvolle Datenvernetzung und die Sorge um sensible Patientendaten sind ihrer Ansicht nach ein entscheidendes Kriterium. Auch Baum und Irschik-Hadjieff stimmen zu, schützenswerte, persönliche Daten müssten anonymisiert bleiben und aus Datensätzen entfernt werden.
Prof. Schmidtke erachtet eine international gut vernetzte Forschung ebenfalls als elementar wichtig im Einsatz gegen Rare Diseases. Aufgrund der geringen Patientenzahlen seien aussagekräftige Studien oftmals nahezu nicht durchzuführen. Daher sei es entscheidend, vorhandenes Wissen so gut wie möglich zu teilen und auszubauen. Das gesundheitspolitische Ziel bis 2027: Alle Menschen, die an einer bekannten Seltenen Erkrankung leiden, sollen innerhalb eines Jahres die korrekte Diagnose erhalten. Zudem sollen 1.000 neue Therapien zugelassen werden. Darüber hinaus betont Schmidtke, Seltene Erkrankungen müssten auch dringend festeren Einzug in die moderne ärztliche Ausbildung halten und beispielsweise im Fokus der Weiterbildung stehen.
Irschik-Hadjieff äußert den Wunsch, dass Deutschland hinsichtlich der Erforschung Seltener Erkrankungen wieder mutiger wird. Vor einigen Jahren stellte Deutschland in dieser Hinsicht den Spitzenreiter da, aktuell befinde man sich weltweit auf dem 5. Platz. Zudem stelle Deutschland den drittgrößten Markt für Orphan Drugs dar. Irschik-Hadjieff zeigt sich allerdings optimistisch, dass Deutschland bei der Forschung zu Rare Diseases wieder an den Status früherer Jahre anknüpfen könnte – vor allem, wenn Patientinnen und Patienten besser in die Forschung eingebunden werden.
Referenz:
Tagesspiegel Fachforum Gesundheit 2021: Zukunftsperspektiven bei Seltenen Erkrankungen
25.02.2021