Rund eine halbe Million Menschen erkranken jedes Jahr an Krebs, Tendenz steigend. Immer bessere Diagnosemöglichkeiten machen jedoch deutlich, dass Krebs eine höchstindividuelle Krankheit ist und die Betroffenen eine auf sie persönlich zugeschnittene Therapie brauchen. Um dies zu ermöglichen, nehmen Forschende am Berlin Instiute of Health (BIH) in verschiedenen Projekten die Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) in Anspruch.
So können sie einzelne Krebszellen mit höchster Detailschärfe charakterisieren, die passenden Medikamente auswählen und eine Krankenakte speziell für an Krebs Erkrankte entwickeln, die sie auf ihrem oft langen Krankheitsweg begleitet und alle Krankheits- und Behandlungsdaten aufnimmt.
Professorin Angelika Eggert, Direktorin der Kinderklinik der Charité mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie, ist Sprecherin der Forschungsplattform "Multi-Omics" des BIH: "Hier können wir mithilfe neuer molekularer Technologien Tumoren schon heute sehr präzise bis auf die Ebene einzelner Zellen charakterisieren." So kann das komplette Erbgut der Zellen entschlüsselt, sämtliche Proteine charakterisiert, der Stoffwechsel der Zellen verfolgt und Biomarker oder Oberflächenmoleküle entdeckt werden. Dabei fallen natürlich riesige Datenmengen an. "Um diese Daten zu erfassen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen braucht man natürlich auch die künstliche Intelligenz," sagt Angelika Eggert.
Die Analyse dieser molekularen Daten zu einem Tumor geben Auskunft darüber, welche molekularen Ziele für eine Therapie möglich wären. Zudem kann das individuelle Rückfallrisiko berechnet und daraufhin die Aggressivität der Therapie anpasst werden. "Oder wir versuchen, den Patienten auch neue experimentelle Therapien anzubieten, gerade wenn das Risiko sehr hoch ist," sagt Angelika Eggert. Dieses aufwändige Vorgehen eignet sich nicht für jede Krebsdiagnose. "Da geht es um die Patienten, denen wir bisher nicht effektiv helfen konnten, bei denen wir also zusätzlichen Aufwand, auch unter Zuhilfenahme der Künstlichen Intelligenz, betreiben müssen."
Das wissenschaftliche Team um Dr. Christian Conrad vom BIH Centrum für Digitale Medizin untersucht primäre Gewebeproben von herausoperierten Tumoren. "Das sind oft nur sehr geringe Mengen, das reicht nicht aus, um daran 50 verschiedene Medikamente auf ihre Wirkung zu testen", erklärt der Biologe. "Wir züchten daher aus den im Gewebe enthaltenen Stammzellen kleine dreidimensionale Gewebestückchen, so genannte Organoide, an denen wir die Tests durchführen können. Unter dem Mikroskop können wir dann beobachten, ob eine Substanz den Tumor zum Schrumpfen gebracht hat, ob sie Tumorzellen abtötet oder keine Wirkung zeigt."
Weil es aber so viele Proben sind, die getestet werden müssen, arbeiten die Forschenden daran, das Verfahren zu automatisieren: "Wir verwenden Kulturplatten, auf denen 100 Organoide gleichzeitig Platz finden. Diese werden automatisch unter dem Mikroskop analysiert und die Daten direkt im Computer ausgewertet. Unser Ziel ist es, Modelle zu entwickeln, die Auskunft darüber geben können, welches Medikament bei welchem Patiententumor die beste Wirkung gezeigt hat", erzählt Conrad.
Parallel dazu wird auch die genetische Expression der Mini-Tumoren analysiert. Darüber erhält man Auskunft, welche genetischen Veränderungen im Tumor enthalten sind und kann Vorhersagen treffen, welche zielgerichteten Medikamente am wahrscheinlichsten gegen die Tumorzellen aktiv sind. "Meist stimmt unsere Vorhersage anhand der Sequenzierdaten mit der Beobachtung unter dem Mikroskop überein, manchmal aber auch nicht", berichtet Christian Conrad. "Wir wollen herausfinden, wie die Morphologie, also das Aussehen der Organoide, und die Genexpression zusammenhängen."
"Unser Ziel ist es, verschiedenen Krebspatienten eine möglichst wirksame und nebenwirkungsarme Therapie anbieten zu können", sagt Professor Roland Eils, Gründungsdirektor des BIH Zentrums für Digitale Gesundheit. "Und in Zukunft möchten wir das Verfahren so weiter entwickeln, dass wir es für möglichst viele Krebsarten einsetzen können."
Professorin Sylvia Thun leitet die BIH Core Facility für e-health und Interoperabilität. Sie möchte eine elektronische Krankenakte für KrebspatientInnen auf Basis internationaler IT-Standards (FHIR, SNOMED, LOINC) entwickeln. "Die Patientinnen und Patienten haben ja oft einen langen Weg durch die verschiedenen Häuser und Praxen. Erst die Diagnose beim Hausarzt, dann im Krankenhaus nochmal Untersuchungen, Operation und Bestrahlung, eventuell eine Chemotherapie beim niedergelassenen Onkologen, danach regelmäßige Nachsorgetermine, und dann kommt womöglich Jahre später der Tumor zurück." In dieser Zeit sammeln sich Untersuchungs- und Behandlungsergebnisse an, die mehrere Aktenordner füllen können. "Hier wollen wir die Patientinnen und Patienten entlasten und ihnen ermöglichen, alle Daten ihrer persönlichen Krankheitsgeschichte in einer elektronischen Patientenakte zusammenzuführen", sagt Sylvia Thun.
Das Problem ist, dass die Daten aus Labordiagnostik, Pathologie, Bildgebung, Gewebeuntersuchung oder Gensequenzierung unterschiedliche Formate haben, der Behandlungsverlauf und die eingenommenen Medikamente werden nicht oder in unterschiedlichen Sprachen dokumentiert und wie es Betroffenen unter der Therapie wirklich geht, müssten sie eigentlich selbst aufzeichnen. "Um die Daten für die Weiterbehandlung oder für die Forschung nutzen zu können, müssen sie aber in strukturierter Form vorliegen und idealerweise sowohl menschen- als auch maschinenlesbar sein ", erklärt Sylvia Thun. "Unser Ziel ist es, alle Krankheitsdaten in standardisierter Form zu erfassen und so zu strukturieren, dass der Krebspatient und die Krebspatientin ihre persönlichen Daten in ihrer elektronischen Patientenakte mitnehmen können und wann und wie sie möchten, ihrem Arzt oder Ärtzin beziehungsweise der Forschung zur Verfügung stellen können." Mithilfe von Künstlicher Intelligenz und internationaler Netzwerke, die in den standardisierten Sprachen miteinander kommunizieren, könnte dann sowohl die beste Therapie für einzelne Personen gefunden werden. Aus den gemeinsam ausgewerteten Daten vieler Betroffener könnten aber auch ganz neue Zusammenhänge aufgedeckt werden, die zu neuen Behandlungsformen führen könnten.