Es ist verwirrend. Wohin man hört, überall ist die Rede von Bilddaten, Biomarkern, Rechenmodellen und selbstlernenden Algorithmen. Die medizinische Fachwelt spricht gleichzeitig von personalisierter Präzisionsmedizin und holistischen Ansätzen. Umwelteinflüssen, sozialen Bedingungen, persönlichen Erfahrungen werden ebenso Bedeutung bei der Entstehung von Krankheiten zugewiesen wie genetischen Faktoren, dem Mikrobiom oder bereits vorhandenen Komorbiditäten. Eins ist klar: Mit Einzug des Machine Learnings hat sich eine ganz neue Welt von Prädiktions- und Diagnoseverfahren eröffnet, bis hin zur Voraussage von Krankheitsverläufen unter bestimmten Therapien. Alles wird immer komplexer. Was heißt das für die Psychiatrie?
Die Herausforderung besteht darin, die Zusammenhänge und Verknüpfungen zu verstehen, die man selbst mit den unterschiedlichen Verfahren herstellt. Die reale Angst der Ärzteschaft, von den intelligenten Systemen übertroffen oder gar durch diese ersetzt zu werden, ist im Grunde die Angst vor sich selbst. Vor den Datenmengen, die man selbst erhoben und eingepflegt und zur Weiterverarbeitung an Rechner übergeben hat, die leistungsfähiger sind als man selbst.
Für psychiatrische Erkrankungen existieren bislang wenig quantitative Daten, die ja im allgemeinen Verständnis Objektivität versprechen. Ein Mangel an objektiv messbaren Parametern erschwert jedoch die Diagnosestellung und Vorhersage individueller Krankheitsverläufe. Prof. Eickhoff, Lehrstuhlinhaber am Institut für Neurowissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beschreibt die Ziele, die durch den Einsatz von Machine Learning in der psychiatrischen Forschung erreicht werden sollen, folgendermaßen: "Letzendlich stellen wir uns das im besten Fall so vor, dass ein Patient kommt und zum Beispiel eine bildgebende Untersuchung durchgeführt wird, und dann haben wir zum Einen die Möglichkeit, automatisiert, objektiv und quantifizierbar eine Diagnose zu stellen. Das ist gerade im Bereich der Psychiatrie, in einem Fach, wo viele Diagnosen auf Kriterien, auf Systemen beruhen, ein erster wichtiger Schritt. Aber wir erhoffen uns natürlich mehr als ein diagnostisches Tool, zum Beispiel herauszufinden, ob wir über Machine Learning-Ansätze etwas darüber aussagen können, von welcher Art der Behandlung ein Patient am besten profitieren würde. Und letztendlich geht es natürlich um die Frage: Können wir individuelle Prognosen leisten?"
Prof. Nikolaos Koutsouleris aus München fragt sich, warum die Psychiatrie bislang nicht über prädiktive Modelle verfügt, sondern Diagnosen und therapeutische Entscheidungen noch immer auf einem Kanon festgesetzter Normen und dem berühmten Gut Feeling, der Intuition, basieren. Dementgegen setzt er die sogenannten rationalen Entscheidungsmodelle, die es in der somatischen Medizin schon lange gibt, wo man mit Staging Modellen arbeitet, die nach und nach immer mehr verfeinert werden und so ein immer präziseres und wirksameres Vorgehen ermöglichen. Doch auch in der Psychiatrie gibt es Erkrankungen, wie zum Beispiel die Psychosen, mit einem häufig progredienten Erkrankungsverlauf über viele Jahre. Sie beginnen mit einer asymptomatischen Phase, die dann übergeht in ein Hochrisiko-Stadium. Ein Teil der Population entwickelt dann eine Erstmanifestation und ungefähr die Hälfte von dieser Population entwickelt einen schlechten Verlauf. Es ist allerdings mittlerweile bekannt, dass durch ein frühes Eingreifen in den Erkrankungsprozess, das heißt bereits vor Erkrankungsbeginn, im Hochrisiko-Stadium, das Risiko der Erkrankung um bis zu 54 Prozent gemindert werden kann. Auch bei Eingreifen in der Phase der Erstmanifestation kann durch eine Kombination von Antipsychotika und beispielsweise einer Familienintervention das Risiko einer Stadienprogression noch um 34 bis 58 Prozent gemindert werden.
Ein Grund, warum dieses Eingreifen häufig noch nicht erfolgt, ist laut Koutsouleris die mangelnde Infrastruktur für Big Data und präzisionspsychiatrische Konzepte. Benötigt würde hierfür eine klinische Infrastruktur, die darauf ausgerichtet ist, dass Patientinnen und Patienten tatsächlich frühzeitig erkannt und behandelt würden. Dies würde das Fundament für die Anwendung solcher Verfahren darstellen. Ein weiteres Problem ist die Heterogenität des Krankheitsverlaufs. Bei den meisten Personen bricht die Krankheit gar nicht aus. Aber selbst bei ersterkrankten Patientinnen und Patienten, erklärt Koutsouleris, sei von einer Krankheitsepisode mit anschließend lebenslanger Krankheitsfreiheit bis hin zu einer Dauerhospitalisierung alles möglich. An dieser Stelle setzt der präzisionspsychiatrische Ansatz an, der es ermöglicht, mit Hilfe von großen Datenmengen und Rechenmodellen eine Prädiktionsfunktion abzuleiten und eine Verlaufsvorhersage für einzelne Fälle zu treffen. Neue Studien zeigen, dass auf diese Weise tatsächlich erstaunlich präzise Ergebnisse erzielt werden können.
Natürlich sind diese Erkenntnisse auch für die Pharma-Industrie interessant. Hier gibt es mittlerweile den Begriff der Disease Interception. Ein strategischer Bereich von Janssen Research & Development nennt sich Disease Interception Accelerator, der sich mit der Entwicklung von konkreten Maßnahmen beschäftigt und es sich zum Ziel gesetzt hat, Krankheiten in Risikopopulationen abzufangen und die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft zu verbessern. Die Revolution in der Psychiatrie ist demnach auch ein Marktzweig.
Wäre zu erörtern, wie ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Daten funktioniert, die einen Menschen abbilden sollen, dessen grundlegendes Selbstverständnis über messbare Gehirnaktivitäten und bildgebende Verfahren hinaus geht. Denn solche Verfahren intervenieren nicht nur in Krankheitsstadien, sondern in soziale Umgebungen: wie lebt es sich als Datensatz? Wie wirksam ist das Label "Hochrisikopatient" hinsichtlich Lebensentwürfen oder Jobperspektiven? Welche wirtschaftlichen Interessen bestehen an der Nutzung dieser Daten? Wann werden Prävention und Prädiktion zum Determinismus? Wie verteilen sich Profite? Bringen bessere Diagnosetools mehr Krankheiten hervor? Stigmatisierung oder Entstigmatisierung? Datenmissbrauch? Bekanntermaßen erfordert mehr Komplexität mehr Verantwortung. Wie die sich verteilt, muss notwendig geklärt werden, nicht nur in Hinsicht auf Datenschutzrichtlinien, sondern auch in Hinsicht auf ein verantwortungsvolles Handeln gegenüber Patientinnen und Patienten. Intuition und Gut Feeling finden da vielleicht noch einmal zu einer Neubewertung. Es bleibt jedenfalls spannend.