Ein Forschungsprojekt des Universitätsklinikums Ulm hilft Menschen mit psychischen Belastungen direkt im Job. Das Ziel: Chronische Symptome vermeiden, Kosten für Sozialsysteme reduzieren.
Psychische Erkrankungen werden oftmals erst dann diagnostiziert, wenn sie bereits weiter fortgeschritten sind. Das hat vielfältige Gründe: Arbeitnehmende trauen sich nicht ärztliche Hilfe zu suchen oder zur Psychotherapie zu gehen, sie finden ambulant nicht sofort die richtige Therapeutin oder den richtigen Therapeuten, manchmal ignorieren Betroffene auch die Notwendigkeit einer Therapie. Eine neue Studie der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm und des von der Karl-Schlecht-Stiftung geförderten Kompetenzzentrum Ulm für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz (LPCU) setzt genau dort an. Zusammen mit dem Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Düsseldorf leitet die Ulmer Psychosomatik hierzu einen Forschungsverbund.
Ein Team um die Studienleitung Oberärztin Dr. Eva Rothermund geht in klein- und mittelständische Betriebe, in Verwaltungen und größere Unternehmen und bietet dort einmal wöchentlich psychosomatische Frühberatungen an. Falls nötig sind im Verlauf auch Therapiesitzungen für psychisch erkrankte Arbeitnehmende möglich. Das Ziel: Berufliche Teilhabe sichern. "Die frühe Intervention und arbeitsplatzbezogene Rehabilitation psychisch erkrankter Beschäftigter hilft vor allem den Betroffenen, rechtzeitig geeignete Hilfe zu bekommen. Aber auch dem jeweiligen Unternehmen ist geholfen, da Arbeitsausfälle dadurch reduziert und Sozialkassen entlastet werden", sagt die Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Dr. Eva Rothermund.
Die Beratungen und falls nötig anschließende Therapiesitzungen finden anonym statt, der Arbeitgeber weiß nicht, wer zu den Beratungen und zur Therapie kommt und erhält keinerlei Informationen darüber. Die Betriebsärztin ode der Betriebsarzt vermitteln und werden mit Einverständnis der Beschäftigten hinzugezogen, unterliegen aber der Schweigepflicht. Die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb findet i.d.R. einmal die Woche statt. Beratend sind die Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten des Universitätsklinikums Ulm bei Firmen aus der Region tätig. "Die bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass unser Angebot klinisch ausgesprochen sinnvoll ist“" sagt Professor Dr. Harald Gündel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
Bereits seit acht Jahren gibt es dieses präventive Angebot, das in Vorstudien vielversprechende Ergebnisse geliefert hat und dessen Wirksamkeit jetzt in einer deutschlandweiten randomisierten Untersuchung überprüft werden soll. Das bedeutet für die Studie, dass die eine Gruppe Betroffener durch die Therapeutinnen und Therapeuten der Uniklinik eine rasche klinische Erstberatung, Fachdiagnostik und ggfs. Therapieempfehlung bekommt, aber keine anschließende Therapie in der Firma erhält, sondern an ambulante Angebote weiterverwiesen wird. Die andere Gruppe erhält neben der Erstberatung auch eine Kurzzeit-Therapie am Arbeitsplatz. Wenn medizinisch notwendig, kommen im Einzelfall stationäre Rehabilitationsbehandlung, eine akut-psychosomatische Behandlung, und eine Unterstützung bei der anschließendem Reintegration an den Arbeitsplatz hinzu.
An der Studie teilnehmen können psychisch erkrankte Arbeitnehmende der teilnehmenden Firmen, die zum Beispiel an Angststörungen, Schlafstörungen oder unter somatoformen Störungen wie Müdigkeit, Erschöpfung oder Schmerzsymptomen leiden. Die Studie startet zum 01. Juni 2020 mit Studienvorbereitungen, läuft bis 2024 an insgesamt fünf gleichbeteiligten Standorten in Deutschland und es werden 500 bis 600 Testpersonen eingeschlossen. Ab September 2021 beginnen dann die Beratungen und Therapien in den Unternehmen. 2,3 Millionen Euro Fördermittel wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Deutschen Rentenversicherung zur Verfügung gestellt.
"Wir rechnen damit, dass die psychisch erkrankten Beschäftigten, denen wir auch eine Therapie anbieten, davon klinisch profitieren, und auch die Zeiten ihrer Arbeitsunfähigkeit geringer sein werden", so Professor Gündel. Die AOK Baden-Württemberg, die Deutsche Rentenversicherung Bund sowie die Rentenversicherungen Baden-Württemberg und Braunschweig-Hannover unterstützen das Projekt. Das letztendliche Ziel: Eine dauerhafte Etablierung für dieses Therapieangebot am Arbeitsplatz im Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherungen.
"Psychisch erkrankte Menschen sind oftmals in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt, halten dies aber für persönliches Versagen. In einem Teufelskreis aus Rückzug, Scham und geringerer Leistungsfähigkeit erleiden die Betroffenen oft auch sozialen Schaden", weiß Dr. Rothermund. Das sei für beide Seiten schlecht, für die Betroffenen, aber auch für die Arbeitgeber. Deshalb geht es im Projekt des Universitätsklinikums Ulm auch um "stay at work" als essenzielle Erweiterung des bereits bekannten und ebenfalls involvierten Konzepts der "return to work" Forschung. Es wird vermutet, dass durch die aktuellen Corona-bedingten strukturellen Veränderungen in vielen Arbeitsbereichen seelische Belastungen am Arbeitsplatz eher noch zunehmen werden, und ein entsprechendes Angebot umso wichtiger ist.