Etliche Studien zu neuroregenerativen Therapien bei MS sind unlängst gescheitert. Das Versäumnis, Sport in diese Studien mit einzubeziehen, sowie die Auswahl von Patienten ohne Reparaturkapazität könnte dazu beigetragen haben.
Kernpunkte:Seit 2014 sind drei bedeutende Studien gescheitert, in denen mögliche remyelinisierende Wirkstoffe bei Multipler Sklerose (MS) getestet wurden: hochdosiertes Biotin, Bexarotin (Bexarotene, ein Retinsäure-Rezeptor-Gamma-Agonist) und Opicinumab (Anti-LINGO-1). Fünf MS-Experten argumentieren in einem aktuellen Review, dass die Misserfolge an einem schlechten Studiendesign gelegen haben könnten.1 "Die Forscher haben außer Acht gelassen, dass solche Therapien wahrscheinlich nicht die beabsichtigten Wirkungen erzielen, wenn das biologische Umfeld im Zentralnervensystem (ZNS) der Regeneration nicht zuträglich ist."
Aus Studien an Betroffenen mit Rückenmarksverletzungen und Schlaganfällen wissen wir, dass körperliches Training entscheidend für die Wiedererlangung der motorischen Funktion ist. Auch bei MS gibt es immer mehr Daten, die den Nutzen von Bewegung als potenziell neuroprotektiver und restaurativer Therapie unterstreichen. Bewegung steigert nicht nur das körperliche Wohlbefinden, sondern auch die kognitive und geistige Gesundheit und wirkt sich auf strukturelle Veränderungen des Gehirns aus, einschließlich eines verbesserten Konnektoms, Neuroprotektion, Neurogenese, Oligodendrogenese und Remyelinisierung.1,2
Eine enorme Fülle von präklinischen Untersuchungen bei Apoplex, traumatischen Hirnschäden, Neurodegeneration (M. Alzheimer, M. Parkinson), Rückenmarksverletzungen, aber auch Multipler Sklerose, zeigen zudem, dass Bewegung, Rehabilitation oder ein abwechslungsreiches Umfeld im Vergleich zu bewegungsarmen Kontrollen die Neurogenese, Synaptogenese, Angiogenese, das Überleben und die Differenzierung von Neuronen sowie die Plastizität von Myelin fördern.3
Zusätzlich zu den beschriebenen Effekten dürfen auch aktivitätsabhängige neuronale Modifikationen bei MS-Therapien nicht ignoriert werden. Damit verweisen die Autoren auf die Erfahrungen aus jahrzehntelanger Forschung, aus denen hervorgeht, dass Plastizität als Reaktion auf wiederholtes und intensives Üben auftritt, welches speziell auf das zu erlernende (oder wiederzuerlernende) Verhalten ausgerichtet sein sollte. "Es ist biologisch nicht sinnvoll, ohne spezifisches Training in diesen Bereichen Verbesserungen beim Gehen, bei der Handgeschicklichkeit oder der Kognition zu erwarten."1
Fast eintausend Menschen mit MS haben an den o. g. fehlgeschlagenen Studien teilgenommen, die zweistellige Millionenbeträge gekostet haben. "Die MS-Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, dass noch mehr Behandlungen aufgrund eines schlechten Studiendesigns und der Missachtung der Biologie scheitern", mahnen die Verfasser um Erstautorin Prof. Michelle Ploughman, kanadische Forschungsleiterin für Rehabilitation, Neuroplastizität und Regeneration des Gehirns.
Künftige klinische Studien sollten Impulse für motorische, visuelle und kognitive Systeme einbeziehen. Hierbei müsse das kritische Zeitfenster erkannt werden, in dem Remyelinisierung/ Reparatur stattfinden, um die Interventionen zum richtigen Zeitpunkt anzusetzen.
"Die Zukunft von Studien, in denen Wirkstoffe getestet werden, die vor Neurodegeneration schützen oder die Remyelinisierung fördern, liegt darin, sie entweder an Personen mit ausreichender Funktionsreserve des ZNS zu testen (z. B. an jüngeren Studienteilnehmern) oder Kombinationsbehandlungen durchzuführen, die das zentrale Nervensystem reparaturfähiger machen, wie Bewegung, Nrf2-Induktoren und möglicherweise Neurostimulation", resümiert das Review.1
Referenzen:
1. Ploughman, M., Yong, V. W., Spermon, B., Goelz, S. & Giovannoni, G. Remyelination trial failures: Repercussions of ignoring neurorehabilitation and exercise in repair. Multiple Sclerosis and Related Disorders 58, 103539 (2022).
2. Lozinski, B. M. & Yong, V. W. Exercise and the brain in multiple sclerosis. Mult Scler 1352458520969099 (2020) doi:10.1177/1352458520969099.
3. Guo, L. Y., Lozinski, B. & Yong, V. W. Exercise in multiple sclerosis and its models: Focus on the central nervous system outcomes. J Neurosci Res 98, 509–523 (2020).