Die empfundene Bedeutung der Sexualität für 55- bis 65-Jährige hat sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte verändert. Sex ist für diese Altersgruppe heute deutlich wichtiger. In der ärztlichen Versorgung sollte daher das Thema Sexualität und Lebensqualität ebenso stärker beachtet werden, insbesondere im Bereich der erektilen Dysfunktion und Libidostörungen.
ForscherInnen der Humboldt-Universität zu Berlin und der Vrije Universiteit Amsterdam haben untersucht, ob und wie sich die Wichtigkeit von Sexualität und die Freude am Sexualleben im mittleren Lebensalter über die vergangenen 20 Jahre hinweg gewandelt haben. Damit ergänzen sie bereits vorliegende Studien, nach denen Menschen heute bis in das hohe Alter hinein sexuell aktiver sind als noch vor 20-30 Jahren.
Wichtigstes Ergebnis der Studie: Im Vergleich zu 55- bis 65-Jährigen, die Anfang der 1990er Jahre befragt wurden, berichteten Gleichaltrige 20 Jahre später, dass Sexualität für sie heute wichtiger sei. Den stärksten Anstieg verzeichneten die StudienautorInnen bei alleinstehenden 55-65-jährigen Frauen. Bei gleichaltrigen Männern, die Singles waren, fand die Studie über die Zeit hinweg in dieser Hinsicht keine messbaren Veränderungen.
"Es kann verschiedene Gründe dafür geben, dass Erwachsene um die 60, die in den 50er Jahren geboren wurden, ihre Sexualität heute als wichtiger wahrnehmen, als diejenigen, die vor dem II. Weltkrieg geboren wurden", kommentierte die Erstautorin der Studie, Karolina Kolodziejczak: "Unter anderem vermuten wir, dass gesellschaftliche Bewegungen, wie die sogenannte 'sexuelle Revolution' der 60-70er Jahre, die Einstellungen zur Sexualität weitreichend verändert haben. Auch die feministischen Bewegungen seit dieser Zeit mögen das Bild von weiblicher Sexualität in der Hinsicht geprägt haben, dass alleinstehende Frauen ihre Sexualität heute freier und ungezwungener ausleben und genießen können."
Anders als erwartet nahm jedoch die Freude am Sexualleben nicht zu. Der Anstieg in der berichteten Wichtigkeit von Sexualität geht also nicht zwangsläufig mit mehr Spaß daran einher. Prof. Dr. Denis Gerstorf, Mit-Autor der Studie und Experte für Altersfragen: "Wie diese Befunde zustande kommen, werden wir in unserer zukünftigen Arbeit darzulegen versuchen: Welche Rolle spielen historische Veränderungen im tatsächlichen Verhalten? Und welchen Anteil haben historische Veränderungen in der Wahrnehmung der eigenen Sexualität und Veränderungen in der Freizügigkeit, über das eigene Sexualleben zu berichten?"
Für die Studie wurden mit 20 Jahren Abstand zwei unabhängige Gruppen von jeweils 55- bis 65-Jährigen (im Durchschnitt etwa 60 Jahre alt) in den Niederlanden befragt: 718 Erwachsene, die 1928-1937 geboren und 1992-1993 befragt wurden, und 860 Erwachsene, die zwischen 1948-1957 geboren und 2012-2013 befragt wurden.