Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, ordnet in einer Studie die Ergebnisse einer Repräsentativbefragung von 2018 zum Ausmaß sexueller Gewalt in Institutionen ein. esanum befragte ihn dazu.
esanum: Sexueller Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ist seit einiger Zeit ein großes Thema. Ihre Untersuchungen richten sich auch auf andere Bereiche. Warum?
Fegert: Sexueller Missbrauch betrifft alle Verhältnisse, in denen Abhängigkeit zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen besteht.
esanum: Hat der Papst also recht, dass dieses Problem ein gesamtgesellschaftliches ist?
Fegert: Damit hat der Papst inhaltlich völlig recht. Ob es aber rhetorisch geschickt war, wenn es um die Kirche geht, zunächst mal lange über andere zu reden, das sei noch dahingestellt.
esanum: Die von Ihnen an der Universität Ulm ausgewerteten Daten lassen schließen, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer bei diesen Delikten gibt. Wie verlässlich sind Ihre Hochrechnungen?
Fegert: Bei allen wissenschaftlichen Zuordnungen haben wir immer statistische Kennwerte - und je kleiner die Zahlen sind, umso größer sind die Konfidenzintervalle, also der Rahmen, in dem der wahre Wert liegt. Hier haben wir eine relativ kleine, repräsentative Stichprobe – 2500 Erwachsene, die befragt wurden. Das entspricht den Stichproben, die Zeitungen oder das Fernsehen für die Sonntagsfrage nehmen. Das sind also schon Größenordnungen, mit deren Hilfe man Aussagen machen kann. Froher wäre ich natürlich, wenn wir 20 000 oder sogar 100 000 Menschen befragen könnten. Doch das ist eine Frage der Finanzierung. Wir haben diese Studie selbst finanziert. Und die Zahlen, die wir für das Dunkelfeld finden, decken sich stark mit den Angaben der WHO für Europa.
esanum: Sie gehen von 200.000 Betroffenen in der Gesamtbevölkerung aus, die im kirchlichen Bereich viktimisiert wurden. Wie ergibt sich diese Zahl?
Fegert: Wir haben alte Fragen genommen, die 2010 schon einmal von Herrn Pfeifer gestellt wurden. Dort wurde nach Übergriffen in Einrichtungen der katholischen und der evangelischen Kirche, sowie nach Übergriffen durch Pfarrer und Priester gefragt. Bei den Angaben der katholischen Kirchen bezogen sich die Angaben nur auf Übergriffe durch Priester, während bei der evangelischen Kirche auch Erzieher und andere Personen inbegriffen waren. Und wenn man das alles zusammennimmt und hochrechnet auf die Gesamtbevölkerung, kommen wir auf ungefähr 200 000 Missbrauchsfälle im Kontext einer der Kirchen.
esanum: Über welchen Zeitraum reden wir?
Prof. Dr. Fegert: Wir reden von Menschen über 14 Jahren bis an das Lebensende. Das heißt, auch über lange zurück liegende Zeiträume. Das ist interessant im Vergleich mit dem Hellfeld, das in der Mannheim-Heidelberg-Gießen-Studie, welche die Bischöfe in Auftrag gegeben haben - diese geht ebenfalls zurück bis an den Anfang der Bundesrepublik. Insofern kann man das gut vergleichen. Es geht darum, zu zeigen, dass die 3677 Fälle, welche administrativ bekannt wird und zu einer Fallbearbeitung in der Kirche geführt haben, nur die Spitze des Eisberges sind.
esanum: Ihre Untersuchungen deuten an, dass die von Priestern begangenen Missbrauchsfälle eher in die kriminologisch schwere Kategorie - wie Penetration - einzuordnen sind. Wie erklären Sie das?
Fegert: Dafür habe ich keine Erklärung, das haben wir einfach beobachtet. Wichtig war mir aber, diese Aussagen der Betroffenen uns gegenüber zu betonen, weil die Analysen aus den Akten den Eindruck erweckt hatten, dass es sich vielfach eher um weniger schwere Fälle handelt. Als Psychotherapeut muss ich sagen, ob etwas kriminologisch als schwerwiegende Tat oder nicht erscheint, ist subjektiv für die Betroffenen und mit Blick auf die psychischen Folgen oft etwas ganz anderes.
esanum: Auch Schulen und Sportvereine stellten sich als auffällig häufige Orte sexueller Übergriffe heraus. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis?
Fegert: Der unabhängige Beauftrage Herr Rörig hat ja zuerst eine große Schulkampagne gestartet. Und ich denke, das ist sehr richtig, denn Schule ist der Ort, wo vielen Kindern geholfen wird. Schule ist aber auch der Ort, wo sie Opfer durch Übergriffe von Schülern oder Erwachsenen werden können. Insofern sind Schulen und alle anderen Orte wie Sportvereine, wo viele Kinder zusammenkommen, Orte, die wir in der Präventionsarbeit in den Blick nehmen müssen.
esanum: In Stichproben in Heimeinrichtungen fanden die Autoren einer Studie aus Ihrer Gruppe die erschreckende Zahl von 46,7 Prozent der befragten Mädchen und 8 Prozent der Jungen, die über die Lebenszeit betroffen waren. Heißt das tatsächlich, dass beinahe die Hälfte weiblicher Heimkinder sexuell missbraucht werden?
Prof. Dr. Fegert: Diese Aussage bedeutet, dass diese Mädchen in ihrem Leben missbraucht wurden - nicht unbedingt im Heim. Ein häufiger Grund für die Heimunterbringung ist ja gerade der Missbrauch, der vorher zum Beispiel in der Familie stattgefunden hat. Neuen Missbrauch im Heim haben wir bei 5 Prozent der Befragten gefunden. Auch das ist eine schockierende Zahl, denn man wünscht ja eben, dass diese Kinder im Heim geschützt sind. Aber dort treffen natürlich viele belastete Kinder zusammen. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Einrichtungen sich in diesen Fragen besonders kompetent verhalten.
esanum: Sie wünschen sich eine nationale Strategie im Kampf gegen Kindesmisshandlung. Wie sollte diese aussehen? Und wer müsste sich beteiligen?
Fegert: Die UN hat nach den Milleniumszielen, die weltweit zur massiven Absenkung der Kindersterblichkeit geführt haben, nun neue Nachhaltigkeitsziele ("sustainable development goals", SDG) bis 2030 beschlossen. Zu diesen Zielen gehört, dass Kinder gewaltfrei aufwachsen sollen. Das hat sich die gesamte Welt gemeinsam vorgenommen. Es gibt Indikatoren dafür, zu denen gehört, dass immer die jüngste Erwachsenengeneration, die 18– bis 29jährigen, befragt wird, ob sie in der Kindheit Missbrauch und Übergriffe erlebt haben. Das machen wir in Deutschland nicht systematisch. In der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die vom Kanzleramt zuletzt 2016 herausgegeben wurde, sind diese Ziele überhaupt nicht erwähnt. Ich denke, wir müssen hier umdenken und müssen in ein regelmäßiges Monitoring in diesem Bereich investieren.
esanum: Eine Aufforderung an die Politik?
Prof. Dr. Fegert: Absolut. Wenn die Weltgemeinschaft sagt, das ist eines der zentralen Zukunftsziele, dann kann es nicht sein, dass wir uns als kleine Klinik mit Mitteln aus unserer leistungsbezogenen Fördermittelvergabe an allgemein durchgeführte Umfragen dranhängen, um ungefähr eine Ahnung zu bekommen, wie groß solche Dimensionen gerade sein könnten. Aus meiner Sicht ist es eine staatliche Aufgabe, das Thema mit größeren Stichproben zu erforschen - und das regelmäßig.
esanum: Welche Rolle kommt den Ärzten zu?
Prof. Dr. Fegert: Die Ärzte sind im Kinderschutz ganz zentral. Sie spielen eine sehr große Rolle als vertrauensvolle Ansprechpartner. Wir haben seit ca. einem Jahr die medizinische Kinderschutz-Hotline (0800 19 210 00). Und ungefähr ein Drittel der Anfragen, wo Ärzte im Erstkontakt mit Patienten unsicher sind, betreffen sexuellen Missbrauch. Es ist ganz wichtig, die Heilberufe – Ärzte und Psychotherapeuten - hier regelmäßig zu informieren.
esanum: Was leistet die Hotline?
Fegert: Die Hotline ist rund um die Uhr nur für Angehörige der Heilberufe zu erreichen. Es ist bemerkenswert, dass ca. drei Viertel der anrufenden Kolleginnen und Kollegen noch nie mit dem Hilfesystem, z.B. der Jugendhilfe, Kontakt hatten. Von den Ärztinnen und Ärzten bei der Hotline erfahren sie oft zum ersten Mal über das Bundeskinderschutzgesetz und die Regelungen zum Umgang mit der ärztlichen Schweigepflicht. In der Hotline werden die beratenden Ärztinnen und Ärzte durch einen Hintergrunddienst in drei Fachgebieten unterstützt: Rechtsmedizin, Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie. Die meisten NutzerInnen äußern sich sehr zufrieden über dieses niederschwellige Angebot einer kollegialen Beratung. Besonders gefreut hat mich, dass die WHO in ihrem Statusreport zur Prävention von Kindesmisshandlung in Europa die Hotline gerade in Kombination mit den von uns entwickelten E–Learning Angeboten als nachahmenswertes Beispiel für andere Länder in Europa hervorgehoben hat. Das Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin und die Ulmer transdisziplinäre Traumaforschung, deren Sprecher ich bin, erzielen so konkrete Wirkungen für die Praxis. Deshalb sind uns die von uns selbst initiierten Untersuchungen so wichtig, weil sie die Wahrnehmung der Dimension der Problematik steigern.