Auf dem Deutschen Suchtkongress 2018 schlägt Präsident Prof. Dr. Rainer Thomasius von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf Alarm: Suchthilfe sowie Angebote zu Prävention und Therapie für Kinder und Jugendliche müssten deutlich ausgebaut werden. Im Interview mit esanum erklärt er die Situation.
esanum: Prof. Thomasius, auf dem Deutschen Suchtkongress schlagen Sie Alarm. Suchtstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind auf dem Vormarsch – wie ist der aktuelle Stand?
Thomasius: Wir haben in Deutschland einen guten Überblick über die epidemiologische Situation. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung führt regelmäßig alle zwei bis drei Jahre repräsentative Umfragen zum Konsumverhalten bei Kindern und Jugendlichen durch. Hier wird deutlich, dass nach wie vor fünf Problembereiche existieren.
Der erste ist Alkoholmissbrauch – vor allem das sogenannte Rauschtrinken stellt ein erhebliches Problem dar. In kaum einem anderen europäischen Land wird so zahlreich Rauschtrinken praktiziert wie in Deutschland. Die Folge ist, dass wir jedes Jahr in der Gruppe der unter Zwanzigjährigen etwa 23.000 Alkoholvergiftungen in den Notfallambulanzen registrieren. 40 Prozent der 15- bis 19-jährigen Jungen und 36 Prozent der Mädchen betreiben Rauschtrinken – das heißt mindestens einmal pro Monat mehr als sechs alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit.
Das zweite Problem ist Cannabis. Da ist die Zahl der Konsumenten, die in Suchtberatungsstellen Rat suchen, zwar deutlich niedriger als beim Alkohol. Doch die cannabisbezogenen Störungen stellen mittlerweile bei den illegalen Drogen die Hauptpopulation in der deutschen Suchthilfe dar.
Das Einstiegsalter ist gesunken. Auf die Gesamtpopulation bezogen liegt der Einstieg zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr. Problemkonsumenten, die wir in den Beratungsstellen, Ambulanzen und Krankenhäusern sehen, beginnen mit etwa 12 bis 13 Jahren mit dem Konsum. So kann sich die Sucht sehr schnell entwickeln. In den letzten 12 Monaten haben unter den 12- bis 17-Jährigen sieben Prozent Cannabis konsumiert. Und regelmäßig sind es 1,4 Prozent.
Das dritte Problem sind die stimulierenden Substanzen, wie Amphetamine, Methamphetamine (oft Crystal Meth), das vor allem in Sachsen und Südost-Bayern bei Jugendlichen eine Rolle spielt und schnell zu Abhängigkeiten führt und eine Reihe ungünstiger körperlicher Folgen nach sich zieht. Zu diesen stimulierenden Substanzen gehören ferner auch die Präparate aus der Ecstasy-Gruppe, sowie Kokain. Die Einnahmehäufigkeit ist hier geringer und liegt bei 0,1 bis 0,5 Prozent der jungen Bevölkerung.
Die Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS) sind das vierte große Problem. Sie werden hauptsächlich im Internet vertrieben – als Kräutermischung oder Badezusatz. Sie umgehen das Betäubungsmittelgesetz, indem bestimmte molekulare Abänderungen stattfinden, sodass sie chemisch gesehen dem Gesetz nicht unterliegen. So identifiziert die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht jedes Jahr 50 bis 100 neue NPS. Dieser Markt ist einer ständigen Veränderung unterworfen. Die Produkte werden kinder- und jugendgerecht angeboten, beispielsweise als Spice in kleinen Tütchen.
Es handelt sich um Kräuter, die mit psychoaktiven Substanzen, in diesem Fall synthetischen Cannabinoiden besprüht werden – sie haben eine beruhigende, sedierende, und zugleich etwas bewusstseinserweiternde Wirkung. Die Cathinone, die als Badesalze angeboten werden, haben eine aktivierende Wirkung - ähnlich wie Speed und Kokain. Die NPS sind mit dem Problem verbunden, dass sie toxikologisch nur unter hohem Aufwand nachweisbar sind, was in der Therapie zu Problemen führen kann.
Das fünfte große Suchtphänomen sind die internetbezogenen Störungen – die Computerspielstörung sowie die Abhängigkeit von Social Media. Betroffen sind 2 bis 5 Prozent der Jugendlichen.
Zusammenfassend weist eine signifikante Population der Jugendlichen riskantes Konsumverhalten auf. Betroffene Jugendliche laufen Gefahr eine Suchtstörung zu entwickeln, die bis ins Erwachsenenalter oder sogar lebenslang anhält.
esanum: Welche Folgen haben die Süchte für das Leben der Betroffenen?
Thomasius: Sie haben sehr ungünstige seelische, soziale und körperliche Folgewirkungen – oft lebenslang. Aus psychiatrischer Sicht zeigen Patienten häufig ein gestörtes Sozialverhalten depressive Störungen und Impulskontrollstörungen. Auch Ängste, soziale Phobien, Essstörungen sowie substanzinduzierte Psychosen, ausgelöst durch Cannabis, Ecstasy, Amphetamine, Kokain und LSD und schizophrene Psychosen sind mögliche Erkrankungen.
esanum: Welche Süchte nehmen insbesondere zu?
Thomasius: Vor allem nichtstoffgebundene Süchte wie Computerspielsucht nehmen deutlich zu, weil sie relativ neu sind, während Cannabis- und Stimulanzienmissbrauch seit vielen Jahren relativ konstant sind. Aber auch bei den NPS beobachten wir einen zunehmenden Absatz. Auf unserem Kongress haben wir darauf hingewiesen, dass Prävention und Hilfestellung der Suchtgefährdung im Jugendalter nicht gerecht werden. In Deutschland stehen nur 220 stationäre Betten für die qualifizierte Entzugsbehandlung in den Suchtschwerpunkten der kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken zur Verfügung. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Deswegen setzen sich die Suchtentwicklungen oft bis in das Erwachsenenalter fort, bis Hilfestellung endlich greift.
esanum: Was fordern Sie, um die Situation in der Suchthilfe für Kinder und Jugendliche zu verbessern?
Thomasius: Wir benötigen bundesweit mehr stationäre kinder- und jugendpsychiatrische und –psychotherapeutische Behandlungsoptionen für die qualifizierte Entzugsbehandlung. Zudem muss die medizinische Rehabilitation für suchtkranke Jugendliche erweitert werden. Bis auf zwei Ausnahmen in Hamm und in Viersen gibt es solche Einrichtungen für Jugendliche unter kinder- und jugendpsychiatrischer Leitung noch nicht. Und drittens sind Erweiterungen in der Jugendhilfe notwendig. Viele betroffene Jugendliche kommen aus ungünstigen familiären Verhältnissen und erleben im Verlauf der Akutbehandlung, dass es keinen Weg zurück nach Hause gibt. Die Bereitschaft der Jugendhilfeträger, in ihren stationären Einrichtungen mit diesen Jugendlichen zu arbeiten, reicht bisher nicht aus.
Und weiterhin müssen die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Akteuren optimiert werden wie das Ineinandergreifen von Jugendhilfe, Schülerhilfe, Jugendgerichtshilfe und medizinischer Versorgung. Die Transition, also der Übergang vom Jugendalter zum Erwachsenenalter, muss besser gelingen.
esanum: An wen richten Sie diese Forderungen?
Thomasius: An die Deutsche Rentenversicherung, die Jugendhilfe und an Städte, Kommunen und Gemeinden. Letztlich geht es ja auch um volkswirtschaftliche Erwägungen. Die Folgekosten von Suchtstörungen liegen höher als die Folgekosten von Depressionen, Psychosen, Demenzen und Angststörungen, zusammengerechnet. Eine Frühintervention würde der Gesellschaft insgesamt nützen. Zudem geht es um den Schutz des Kindeswohls. Süchtige und suchtgefährdete Kinder und Jugendliche haben keine Lobby, sie werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, fallen aus Schul- und Sozialsystemen heraus. Sie können ihre Bedürftigkeit nicht aus eigener Kraft deutlich machen. Daher wollten wir mit unserem Kongress ein deutliches Signal an alle für das Kindeswohl Zuständigen senden.
esanum: Wie optimistisch sind Sie, mit diesen Anliegen durchzudringen?
Thomasius: Wir haben in der Tabakprävention Jahrzehnte gebraucht – und verzeichneten hier trotzdem die größten Erfolge in der Suchtprävention. Steuererhöhungen, der Abbau von Tabakautomaten, das Abgabeverbot an Jugendliche, gesetzlicher Nichtraucherschutz und Rauchverbote in der Öffentlichkeit haben dazu beigetragen. Nichtrauchen ist cool geworden. Derzeit steigen nur noch sechs bis acht Prozent der 12- bis 14-Jährigen ins Tabakrauchen ein. Ein großer Erfolg. Es wäre wunderbar, wenn wir die Erfolge auf Alkohol und Cannabis übertragen könnten. Allerdings führt die gegenwärtige Legalisierungsdebatte zum Gegenteil, auch wenn weite Teile der Gesellschaft das anders sehen. Bei Cannabis, Alkohol und bei den NPS sind zu viele Akteure sehr unterschiedlicher Meinung
esanum: Welche Ideen gibt es zur Prävention?
Thomasius: Mit modernen Präventionsstrategien hat sich der Kongress ausführlich beschäftigt. Mehrere Symposien waren der Cannabisprävention gewidmet, es geht hier unter anderem um erfolgreiche Projekte aus dem anglo-amerikanischen Raum. Wir haben in Deutschland eine gut aufgestellte Tabak- und Alkoholprävention, Cannabis wird vernachlässigt. In Schulen und Gemeinden kann und muss man in diesem Feld weit mehr tun. Aber auch die familienbasierte Prävention muss gestärkt werden. Noch gehen wir mit unseren Präventionsmaßnahmen sehr einseitig auf den einzelnen Jugendlichen zu, nicht aber auf dessen Bezugspersonen, die Familie. Dabei gibt es international gut etablierte Programme in denen ganze Familien teilnehmen, insbesondere Familien aus sozial schwachen, bildungsfernen Kontexten. Eltern werden in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt, die familiäre Kommunikation gefördert und die soziale Kompetenz der Kinder gestärkt. Programme wie "Familien stärken" steigern die Widerstandskraft gegen Substanzkonsum und -missbrauch.
esanum: Das machen Sie in Hamburg doch schon seit Jahrzehnten?
Thomasius: Für Hamburger Fachkräfte ist das alles nicht so sehr neu. Wohl nirgendwo anders in Deutschland ist die Suchtprävention so gut aufgestellt. Wenn man Hamburger Verhältnisse auf ganz Deutschland übertragen könnte, wäre ein wesentliches Ziel erreicht.
esanum: Eine Geldfrage?
Thomasius: Ja – und politischer Wille. Aber Studien zeigen: Jeder US-Dollar, der beispielsweise in die familienbasierte Prävention fließt, zahlt sich für die Sozialgemeinschaft mit 8 Dollar aus.